Viele kennen das bei Stützhaltungen und Kräftigungsübungen der Arme: Danach schmerzen die Handgelenke und man kann die geliebte Praxis nur eingeschränkt mitmachen. Manche Yogapraktizierende helfen sich mit Blöcken, andere verwenden ihre Fäuste, um so nicht die ganze Handfläche auflegen zu müssen. Jedoch sind dies leider nur Kompensationstechniken, um dem Schmerz auszuweichen. Aber warum schmerzen die Handgelenke?
Die Anatomie des Handgelenks
Das Handgelenk ist eine relativ komplexe Region, es verbindet den Unterarm mit der Hand und koordiniert die Bewegungen der ganzen Hand. Dabei verbindet sich die Speiche (Radius) mit einem Teil des Handwurzelknochens und in einem zweiten Teil stellt der untere Teil des Handgelenks eine Verbindung zwischen den beiden Reihen der Handwurzelknochen her. Hinzu kommen die Elle (Ulna), die keine direkte Verbindung aufweist, und die Zwischengelenksscheibe zwischen Speiche und Elle. Zusammen bilden sie eine funktionelle Einheit, die sehr stark durch Bänder gesichert ist. Wichtige Nerven und Sehnen ermöglichen die Versorgung und Bewegung der Hand und Finger. So weit zu den anatomischen Grundlagen.
Was macht das Handgelenk besonders?
Interessant ist, dass sich das Handgelenk sehr vielseitig bewegen kann, ähnlich dem Sprunggelenk. So kann die Hand 70 bis 80 Grad im Normalzustand gestreckt und 80 bis 90 Grad gebeugt werden. Seitliche Bewegungen sind ebenso möglich wie kreisende Bewegungen.
Warum bereiten uns die Handgelenke so oft Beschwerden?
Nun kann es im Handgelenksbereich neben Knochenbrüchen (häufig die distale Radiusfraktur, meist nach Stürzen) zu verschiedenen Problemen und Beschwerden kommen. Weit verbreitet im Trainingsbereich oder bei Überlastungen sind Sehnenscheidenentzündungen, aber auch das Karpaltunnelsyndrom kann durch Einengung eines Nervs im Handgelenksbereich zu ausstrahlenden Schmerzen und Parästhesien (d.h. Missempfindungen wie zum Beispiel Kribbeln) führen.
In vielen Fällen beobachten wir im Yoga-Unterricht Schmerzen im Handgelenksbereich vor allem bei und nach Stützhaltungen. Sehr häufig kommen diese im Herabschauenden Hund vor, dessen Ausführung wir uns nun genauer ansehen sollten, um die Ursache dieser Beschwerden zu ergründen. Dabei zeigt sich für mich seit über 20 Jahren und nach vielen tausenden Schülern ein wiederkehrendes Phänomen, das bei Handgelenksschmerzen fast jedes Mal auftritt.
Die Ausrichtung der Hände in Stützhaltungen
Die zwei häufigsten Missverständnisse sind das vermeintliche körperliche Ziel und die Ausrichtung des Herabschauenden Hundes: Vielfach wird als Asana-„Endziel“ angenommen, dass die Fersen den Boden berühren sollen. Dies ist aber aufgrund von verschiedenen Ursachen nicht für jeden Yogapraktizierenden möglich. Das trifft vor allem auf jene Menschen zu, die keine exzellent gedehnten Hamstrings und/oder Rückenstrecker vorweisen. Wenn dem so ist, dann kann es gerade für Yoga-Beginner dazu führen, dass unbewusst das Körpergewicht nach vorne verlagert wird: Aufgrund der Verkürzungen auf der Körperrückseite ist eine Gewichtsverlagerung Richtung unterer Körperhälfte anatomisch einfach nicht möglich. In der Folge kommt noch mehr Druck auf die Hände. Man stelle sich hier zusätzlich vor, dass die Schultern, Arme, Hände und insbesondere Handgelenke nun das gesamte Körpergewicht halten und stabilisieren müssen.
Eine weitere Konsequenz ergibt sich aus der Stellung der Handgelenke. Denn je mehr Gewicht nach vorne transportiert wird, desto mehr müssen sich die Handgelenke von einer eher neutralen Richtung in eine gestreckte oder sogar überstreckte Position verändern.
Welche Rolle spielen die Schultern in Stützhaltungen?
Aus dem klassischen Liegestütz oder anderen Stützhaltungen wissen wir, dass die Ausrichtung der Schultergelenke direkt auf Höhe der Handgelenke eine optimale Stabilität liefert. Vergleichen können wir das gut mit der Ausrichtung der Knie auf direkter Höhe der Sprunggelenke in Virabhadrasana oder im Lunge (Ausfallschritt). Je mehr sich die Handgelenke in eine gestreckte Position verändern, desto instabiler wird die Haltung und desto mehr Druck und Gewicht kommt auf die Handgelenke, nämlich das gesamte Körpergewicht (vergleiche die Ausrichtung der Schultern und Handgelenke im Vierfüßlerstand vs. im Herabschauenden Hund [Anm. der Redaktion]).
Kraft in Schultern und Armen ist die Basis
In sehr vielen dieser Fälle kommt eine weitere Tatsache hinzu: Es fehlt an Kraft in Schultern und Armen. Verfügen wir über zu wenig Kraft in diesem Bereich, werden Stützhaltungen sehr fordernd, vor allem dann, wenn wir sie länger halten müssen oder sie öfter zu wiederholen haben.
Was passiert in Folge?
Wir kompensieren unbewusst, indem wir andere Regionen einsetzen, um das Kraftdefizit auszugleichen. In der oberen Extremität bei Stützhaltungen sind das die Hände und Handgelenke, die sich meist schon in einem ungünstigen Winkel befinden und nun auch noch einen Teil der Aufgabe der Schultern und Arme erledigen müssen. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal werden das die Gelenke tolerieren, denn der Körper kann viel ausgleichen und abfedern, er ist ein ökonomisches Konstrukt. Eine regelmäßige Asana-Praxis, die jedoch darauf keine Rücksicht nimmt bzw. wenn keine Korrekturen erfolgen, dann führt es à la longue zur Überlastung im Handgelenksbereich und damit zum Alarmschmerz.
Auf diese 2 Dinge solltest du in Stützhaltungen achten!
Somit gilt in sämtlichen Stützhaltungen folgendes zu beachten: Wie ist die Ausrichtung der Handgelenke? Wenn es eine Position wie Chaturanga oder den Liegestütz betrifft, ist die zentrale Ausrichtung der Handgelenke über dem jeweiligen „Partner-Gelenk“ zwingend erforderlich. Bei Chaturanga wären das die Ellbogen, die übrigens auch nicht nach außen driften sollten (Achtung: auch hier wieder fragliches Kraftdefizit in Armen und Schultern!).
Wie ist die unbewusste Kompensation in Asanas wie dem Herabschauenden Hund und wo liegt das Grundproblem?Ist es vielleicht die mangelnde Flexibilität der Hamstrings oder der Rückenstrecker? Ist es eventuell eine eingeschränkte Hüftflexion? Wie sieht es um die Kraft in Armen und Schultern aus? Wie lange kann ich diese Position halten, ohne sie verändern zu müssen? All diese Fragen sollten beantwortet werden, bevor mögliche Anpassungen vorgenommen werden. |
Kraft in Schultern und Armen ist jedoch in allen Fällen eine wichtige Grundlage für die Stabilität im Oberkörper und der oberen Extremität. Vor allem die Schulter als Kugelgelenk (sie ist das Gelenk im Körper mit dem größten Bewegungsspielraum!) ist primär durch Muskeln gesichert und stabilisiert und benötigt daher insbesondere für die körperliche Yogapraxis eine fundierte muskuläre Basis. Durch einen nicht zielgerichteten Kraftaufbau oder aber auch durch wenig abwechslungsreiche Bewegungen (Stichwort: viel Sitzen!) neigen wir jedoch dazu, in dieser Region übermäßige Spannung aufzubauen. Somit ist eine gesunde Balance von Kraft und Flexibilität im Schulter-Nacken-Arm-Bereich von großer Bedeutung für einen schmerzfreien und gesunden Bewegungsapparat und beste Grundlage für schmerzfreie Handgelenke in und außerhalb der Yoga-Praxis!
Wenn du mehr über Anatomie oder Yogatherapie von Dr. Peter Poeckh lernen möchtest, er bietet zu diesen beiden Themen auch Online-Ausbildungen an. Hier erfährst du mehr dazu. Gemeinsam mit Volker Mehl hat er 2021 auch das Buch Gelenke gut, alles gut im Südwest Verlag. Am 11. Mai erscheint dort auch sein neues Buch Rücken – Schulter – Nacken. |