Vom Schein zum Sein: Die schwierig erscheinende Haltung Ashtavakrasana erfordert von uns eine unvoreingenommene Herangehensweise
Am Königshof von Janaka gab es einen Wettstreit der Philosophen. Vandin schien alles Wissen in sich zu vereinen und bezwang selbst die Weisesten im Disput. Da stand am Rande des Wettkampfes ein „verkrüppelter“ Junge von 12 Jahren auf und forderte Vandin heraus. Doch die Versammelten verlachten und verspotteten den Behinderten nur. Bei dem Jungen waren beide Füße, beide Knie, beide Hände sowie Brust und Kopf entstellt. Diese acht Knoten im Körper bescherten ihm den Namen „achtfach Verkrüppelter“ – Aṣṭavakra (aṣṭa = acht; vakra = Knoten). Doch wie entstellt sein Körper auch war, als der Junge zu sprechen begann, verstummten die Gelehrten, einer nach dem anderen. So stand Aṣṭavakra schließlich vor Vandin. Er diskutierte mit ihm und bezwang ihn durch sein Wissen und sein Geschick in der Rede.
Diese Erzählung des Māhabhārata verdeutlicht, wie der äußere Schein und das innere Sein sich oft unterscheiden. Sie kann uns ermutigen, Vorurteile abzulegen und die Welt unvoreingenommen zu erleben.
Die Praxis von Ashtavakrasana
Nach dem weisen Aṣṭavakra ist eine Körperhaltung benannt. Sie spiegelt wider, wie sich der äußere Schein vom eigentlichen Sein unterscheidet. Auf den ersten Blick mutet die verschlungene Körperhaltung, in der man auf den Händen balanciert, sehr anspruchsvoll an. Viele Praktizierende lassen sich vielleicht abschrecken und wagen sich gar nicht erst an einen Versuch. Zu Unrecht, denn so komplex die Haltung auch scheinen mag – gewusst wie, ist sie überraschend einfach.
WORKSHOP
Ashtavakra – Sehen, was ist
Wir haben gelernt, unsere Wahrnehmung unbewusst und automatisch in Kategorien einzuteilen. Alles, was wir sehen, wird von unserem Gehirn sofort mit einem Label versehen. Diese Fähigkeit unseres Gehirns ist essenziell, um möglichst schnell Situationen aus der Umwelt aufzunehmen und darauf zu reagieren. Ein Rascheln im Gezweig beispielsweise führte für unsere Vorfahren zu einer Alarmbereitschaft, noch bevor sie den möglichen Tiger, der sich im Gehölz bewegt, bewusst wahrgenommen hatten. Diese Geschwindigkeit in der neuronalen Verarbeitung haben wir uns jedoch für den Preis erkauft: Wir verlieren die Fähigkeit, die Welt in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen. Wir sehen, bildlich gesprochen, nur noch die Labels, die wir den Dingen gegeben haben. Unsere Wahrnehmung verliert ihren neuen, schillernden Glanz. Probier es aus: […]