Wenn wir uns vorbehaltlos für uns selbst öffnen, werden wir reich beschenkt. Dann entdecken wir, dass wir einen großen Schatz in uns tragen: unseren Wesenskern, der einem Juwel gleicht. Diesen freizulegen und zum Strahlen zu bringen, ist der Grund unseres Daseins
Meine Yoga-Retreats beginne ich gerne mit folgender Geschichte: Michelangelo war ein begnadeter Bildhauer und einer der größten Künstler seiner Zeit. Eines Tages ging er in Florenz spazieren. Er kam an einem Geschäft für Steinblöcke vorbei und schaute sich lange die zahlreichen kleinen und großen Blöcke auf dem Hof an. Als er einen Block sah, der versteckt hinter all den anderen stand, entschied er sich für genau diesen: „Diesen Block hätte ich gerne. Den möchte ich kaufen.“ Der Marmorhändler, der die Kunstwerke des Meisters kannte, erwiderte: „Dieser Block ist nicht gut. Ich kann ihn dir nicht empfehlen. Er hat zu viele Maserungen.“ Michelangelo aber bestand darauf. „Doch, doch – genau den will ich haben! Ich komme später vorbei und zeige dir, was daraus geworden ist.“ Aus diesem Block schuf Michelangelo die Pietà. Es ist jene wunderschöne und eindrucksvolle Skulptur, die heute im Petersdom in Rom steht. Sie zeigt Mutter Maria mit dem toten Jesus auf den Armen. Es ist ein einzigartiges Kunstwerk, das die meisten Menschen zutiefst berührt. Michelangelo zeigte die Pietà dem Steinhändler, der überrascht fragte: „Ich kann es nicht glauben! Aus meinem Block hast du sie gemacht?“ Michelangelo lächelte und erwiderte dem Steinmetz: „Nein, ich habe sie nicht gemacht. Sie war die ganze Zeit schon in ihm enthalten. Ich habe nur alles entfernt, was nicht dazugehörte.“
Nach dem Ende der Geschichte halte ich zumeist ein wenig inne. Ich schaue in die Augen der Teilnehmer und sage zu ihnen: „Auch in dir, in mir, in jedem von uns ist die Pietà. Guckt einfach in den nächsten Tagen, ob sie sich zeigt, wenn ihr all das weglasst, was nicht zu euch gehört.“ Viele der Anwesenden schauen mich dann erstaunt, verwundert oder zweifelnd an. Ich kann ihre Gedanken förmlich hören: „Ich bin damit bestimmt nicht gemeint!“, „Weglassen? Was genau heißt das?“ oder „Ich werde nie schaffen, die Pietà in mir freizulegen.“
In den folgenden Tagen eines solchen Retreats komme ich dann ganz bewusst immer wieder auf die Pietà in uns zu sprechen. Und es macht mich immer wieder betroffen, wie wenig wir es uns selbst zugestehen, etwas ganz Besonderes zu sein. Die meisten Menschen können sich leichter mit einer negativen Haltung sich selbst gegenüber identifizieren als mit dem Juwel in sich, das die Pieta Michelangelos ja so grandios verkörpert. Immer wieder begegnen mir in meinen Kursen Menschen, die nicht als Wunschkind ihrer Eltern geboren wurden und sich deshalb für ihr Dasein auf Erden schuldig fühlen. Andere glauben, eher eine Belastung für ihre Umwelt zu sein, anstatt diese durch ihr bloßes Dasein zu bereichern. Wieder andere meinen, sich ihr Dasein überhaupt erst einmal verdienen und sehr viel leisten zu müssen, um das Juwel in sich erstrahlen lassen zu dürfen. Für die meisten aber ist es sowieso kaum vorstellbar, dass wir seit unserer Geburt ein solches Juwel in uns tragen, das nicht erworben werden muss, sondern einfach da ist und darauf wartet, von uns gesehen zu werden. Viel zu früh ist dieses Juwel überdeckt worden durch Konditionierungen, Vorstellungen und Wünsche, die andere Menschen, die unsere Einstellung zu uns selbst sehr prägen – etwa unsere Eltern, Lehrer oder selbst unsere Freunde und Partner – an uns richten. Das führt dazu, dass wir meinen, besonders lieb, gut, schön, anpassungsfähig sein oder etwas Besonderes leisten zu müssen, um eine Daseinsberechtigung zu haben. So legt sich im Laufe unseres Lebens das um unser Juwel herum, was Michelangelo entfernte, um die Pietà freizulegen.
Einfach nur sein
Auch im Yoga-Unterricht sind wir übrigens nicht davor gefeit, unser Juwel mit dem, was nicht zu ihm gehört, zu belasten: So glauben wir, besonders gute, fleißige Yogaschüler sein zu müssen. Oder den perfekten Unterricht abliefern zu müssen, damit etwas durch uns als Yogalehrer hindurch strahlen darf. Darüber hinaus gilt für uns alle paradoxerweise, dass wir das Juwel in anderen Menschen leichter sehen und fördern als unser eigenes.
Damit wir im Yoga mit unserem Juwel in Kontakt kommen, lade ich die Teilnehmer gerne ein, sich von der äußeren, perfekten Form eines Asana freizumachen und es stattdessen von innen heraus wahrzunehmen. So wie Michelangelo die Pietà auch nicht „gemacht“ hat, sondern vielmehr wahrgenommen hat, was nicht dazugehörte. Meiner eigenen Erfahrung nach kann eine Yogahaltung ein Tor zu unserem Juwel sein. Das geschieht dann am ehesten, wenn wir mit unserem Atem verschmelzen und uns vorbehaltlos und erwartungslos der Haltung hingeben – ohne sie besonders anatomisch korrekt oder formschön ausführen oder unseren Nachbarn auf der nächsten Yogamatte beeindrucken zu wollen. Denn wenn wir sie nicht durch unseren Willen steuern, sondern sie von unserem Herzen aus ausführen und dann loslassen, kann es geschehen, dass das Juwel uns begegnet oder wir ihm.
Erfahrungsgemäß fällt eine solche Art von Praxis vielen Teilnehmern schwer. Sie halten sich an einem äußerlich perfekt ausgeführten Asana fest. Natürlich ist eine anatomisch richtige Ausführung wichtig – aber sie kann uns gleichzeitig davon abhalten, uns selbst zu erfahren, uns selbst zu spüren und auf allen Ebenen wahrzunehmen: der rein körperlich strukturellen, der emotionalen und auch der spirituellen Ebene. Hierzu eine kleine Episode aus meinem letzten Yoga-Retreat, die mich zutiefst berührte: Nach mehreren Tagen fragte ich eine Iyengar-Yoga-Schülerin mit neun Jahren Erfahrung, wie es für sie sei, sich von innen heraus wahrzunehmen und sich der Haltung achtsam hinzugeben – ohne den Anspruch, diese „perfekt“ auszuführen. Sie schaute mich etwas verlegen an und antwortete mir: „Das macht mir Angst! Dann komme ich mir einfach zu nahe.“ Aussagen wie diese höre ich von meinen Teilnehmer sehr oft. Erstaunlicherweise haben sie Angst davor, sich selbst zu begegnen. Obwohl genau das eines der wichtigsten Ziele im Yoga ist. Und gerade deshalb werde ich nicht müde, jeden von ihnen zu ermutigen, neugierig und mutig den Blick nach innen zu weiten, über das hinwegzuschauen, was ihn verletzt hat, und all das wegzunehmen, was das Juwel überlagert.
Diese Aufforderung auszusprechen, ist natürlich leichter, als ihr zu folgen. Wer von uns traut sich schon, sich einzugestehen, ein Juwel in sich zu tragen? Wer von uns hat schon den Mut, sich aus Kontexten zu lösen, die uns eher klein halten, anstatt das, was uns so einzigartig macht, zu fördern und zu zeigen? Diejenigen, die den Mut hatten, ihr Juwel zum Strahlen zu bringen, wissen, dass es sich lohnt, all das hinter sich zu lassen, was uns klein und uniform erscheinen lässt.
Yoga weist den Weg zu unserem inneren Schatz
Yoga verbindet in den Asanas, durch Pranayama, Tiefenentspannung und Meditation Körper und Geist und ermöglicht uns, uns in einem Moment der totalen Hingabe für das zu öffnen, was uns eigentlich ausmacht. Manchmal helfen besonders Visualisierungsübungen, um das im Unbewussten schlummernde Juwel ins Bewusstsein zu holen. Wenn wir uns zum Beispiel auf eine mentale Reise begeben, mit dem Ziel, unser Juwel zu erfahren, kann diese uns reich beschenken. Wie unser ureigenes Juwel in der Visualisierung aussieht, ist uns selbst überlassen. Wir sollten auch hier den Mut haben, die Bilder da sein zu lassen, die sich uns zeigen. Die Größe und Schönheit unseres eigenen Juwels kann manchmal so überwältigend für uns sein, dass wir bei seinem erstmaligen Anblick in Tränen ausbrechen, weil wir zutiefst berührt sind. Eine solche Erfahrung kann dann ein sehr heilsames Gegengewicht zu all den negativen Vorstellungen herstellen, die wir über uns selbst haben, und uns einen Weg in die Freiheit bahnen.
Die regelmäßige Visualisierung des Juwels in unserer täglichen oder wöchentlichen Yogapraxis kann uns dabei helfen, nach und nach Zugang zu ihm zu finden. Anfangs vielleicht nur als Idee. Im Verlaufe der Zeit kann es aber geschehen, dass uns dieses Bild immer vertrauter wird und wir uns mehr und mehr vorstellen können, dass dieser Teil wirklich in uns existiert. Das Visualisieren kann uns dabei unterstützen, bei dem Juwel eine Art Rückhalt zu finden, unsere Persönlichkeit besser kennenzulernen und sie zu harmonisieren sowie zu einem tieferen Verständnis unserer wahren Bedürfnisse zu finden. Dadurch können wir sowohl im Inneren als auch im Äußeren Erfahrungen machen, die unser Erleben von uns selbst und der Welt enorm bereichern und unser Bewusstsein erweitern. Und noch eines wird dadurch möglich: Wir können jene ungelebten Potenziale zum Leben erwecken, die in uns geschlummert haben. Jeder Mensch, der weiß, dass in ihm ein Juwel wartet, wird die Angst verlieren, sich selbst nahe zu kommen. Stattdessen wird er neugierig und freudig die Entdeckungsfahrt in sein eigenes Inneres antreten und so zu seinem eigenen Lehrermeister werden.
Im Zustand von Yoga – dem Wissen um das eigene Juwel – in dem sich das Bewusstsein für den inneren Reichtum öffnet, spüren wir, dass äußerer Reichtum nur eine kurzfristige Befriedigung darstellt. Das kann dazu führen, dass Dinge, die uns vorher wichtig waren, ihre umfassende Bedeutung verlieren. Vielleicht werden wir uns bewusst, dass materieller Reichtum zwar schön und angenehm sein kann, aber dem inneren Reichtum nicht nahekommt. Ängste werden sich auflösen, die einen vorher aus dem Mangelbewusstsein angetrieben haben, nicht gut, nicht schön oder nicht fleißig genug zu sein. Vieles, was nicht zu uns gehört hat, kann gehen und unserem ureigenen, besonderen Licht und Strahlen Platz machen. Wenn wir uns mit dem Juwel in uns verbunden haben, dann gestaltet sich unser Leben – und mit ihm all unsere Gedanken, Gefühle und Entscheidungen – nicht einfacher, aber natürlicher.
Fazit: Es gibt das Juwel – und zwar in jedem von uns! Allerdings: Nur durch eine kontinuierliche Praxis kann dieses Juwel erkannt und zum Strahlen gebracht werden. Günstig ist dabei eine Mischung von Gleichmut und Disziplin – so können wir unser Juwel, wenn entdeckt, immer mehr in seiner Ursprünglichkeit heben. Dieser Prozess führt aus meiner persönlichen Erfahrung durch die verschiedensten Bewusstseinsschichten, durch Licht und Schatten, durch Illusionen und unmittelbare Erfahrungen. Es ist ein wundervoller Prozess – der wohl lohnenswerteste für uns Menschen überhaupt und gleichzeitig auch einer der schwierigsten für uns.
So würde ich im Verlaufe eines Yoga-Retreats die Geschichte von der Pietà am liebsten jeden Tag vorlesen, damit die Teilnehmer sich immer wieder daran erinnern, dass jeder eine solche beherbergt, wir alles anderen nur abtragen müssen. Warum ich sie gerne wiederholen würde? Weil bereits Lama Jeshe zu sagen pflegte: „Wir müssen die Wahrheit tausend Mal hören, bevor sie Wirklichkeit wird.“