Wenn wir erkannt haben, dass wir Glück und Beständigkeit im Außen nicht finden können, beginnen wir den Blick nach innen zu richten. Im Yoga-Sutra wird das „Nach-innen-Schauen“ als Pratyahara bezeichnet und ist eine wichtige Stufe auf dem Weg zu einem ruhigen Geist.
Wenn ich mich mit einem Problem konfrontiert sehe und längere Zeit vergeblich nach einer Lösung Ausschau halte, ist es hilfreich, die Perspektive zu wechseln und die Situation mit einer anderen Sichtweise zu betrachten. Dadurch erschaffe ich die Möglichkeit, dass sich Lösungsansätze auftun, die ich aus der vorherigen Perspektive niemals hätte sehen können. Die indischen Weisheitstexte wie das Yoga-Sutra von Patanjali werden auch als „Darshana“ bezeichnet, was unter anderem auch Anschauung bedeutet, also eine andere Sichtweise, etwas zu betrachten. Wenn man diese Texte nicht im üblichen Sinne studiert – nur, um Wissen anzureichern –, sondern wie in einen Spiegel in sie hineinschaut, eröffnet sich diese andere Perspektive.
Unwissenheit ist die Ursache für Leid
Meine übliche Perspektive, aus der heraus ich mich selbst und die Welt wahrnehme, bezeichnet man in der Sprache der spirituellen Texte Indiens als die egozentrische Perspektive. Ich bin immer das Zentrum des Geschehens und nehme mich selbst als Person und die Welt um mich herum in einer bestimmten Weise wahr. Aus dieser Wahrnehmung heraus erfahre ich mich als ein getrenntes Wesen und suche in der Welt – also bei Menschen, Objekten und Situationen – dauerhaftes Glück und Zufriedenheit. Glück finde ich – doch es ist temporär und wechselt sich mit leidvollen Erfahrungen ab. Das liegt daran, dass ich etwas Dauerhaftes oder Verlässliches in einem Bereich suche, wo sich ständig alles verändert. Der Versuch, in einem Bereich ständiger Veränderung etwas Unveränderliches und Dauerhaftes zu erschaffen, wird in den Weisheitstexten als „Lebenskampf“ bezeichnet. Er entspringt einer Unwissenheit über mich selbst und führt zu Leid. Radikal und kompromisslos wird diese Unwissenheit als einzige Ursache für menschliches Leid verantwortlich gemacht.
Um diese Aussage etwas klarer zu machen, präsentieren mir die Weisheitstexte eine andere Perspektive. In dieser Betrachtungsweise werde ich weder als Mann oder Frau gesehen, weder gehöre ich einer bestimmten Nation oder Religion an, noch bin ich Erfolgsmensch oder Versager, spirituell oder nichtspirituell. Ich bin im Spiegel dieser Weisheit einfach nur ein bewusstes Wesen – […]