Nicht nur im Buddhismus, sondern auch im Yogasutra spielen die vier höchsten Geisteszustände eine wichtige Rolle. Wie aber können wir sie in unsere Praxis und unseren Alltag integrieren?
Liebe und tiefste Einsicht sind die Grundqualitäten jener höchsten menschlichen Gefühlszustände, die Buddha die vier Brahmaviharas genannt hat. „Brahma“ bedeutet „göttlich“, „bedingungslos“ oder „grenzenlos“, und „vihara“ steht für „Aufenthaltsort“ oder „geistiger Zustand“.
Sie bilden nicht nur in der buddhistischen Lehre einen wichtigen Grundpfeiler – auch für Patanjali, der ca. 800 Jahre später stark vom buddhistischen Gedankengut beeinflusst war, sind diese Qualitäten essenziell, und so finden sie sich im Yogasutra wieder; allerdings unter dem Namen „Bhavana“, was „Meditation“ oder „spirituelle Entfaltung“ bedeutet. Ein Patanjali-Yoga-Experte hat einmal betont, dass diese vier Qualitäten – im Gegensatz zu anderen Praktiken – keine Option auf dem Yogaweg sind, sondern eine absolute Notwendigkeit. Ich bin daher überrascht, wie selten man in der florierenden Yogaszene von diesem 33. Vers im 1. Kapitel hört oder liest:
Durch Entfaltung von [bzw. Meditation über] Freundlichkeit, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut gegenüber Freud, Leid, Tugend und Laster kommt der Geist in Harmonie. (maitri karuna mudito-pekshanam-sukha-duhkha punya-apunya-vishayanam bhavanatah chitta-prasadanam)
Auch wenn in den meisten Übersetzungen diese Begriffe sehr spezifischen Zuständen zugeordnet werden (Freundlichkeit zu Glück, Mitgefühl zu Leid, Mitfreude zu Tugend und Gleichmut zu Laster), erscheint mir im Zusammenhang mit den wesentlich umfangreicheren buddhistischen Quellen eine offenere Definition stimmiger und nachvollziehbarer. Schließlich sollten diese vier höchsten menschlichen Geisteszustände bzw. Meditationsformen, die im buddhistischen Pali-Kanon mit Metta, Karuna, Mudita und Uppekha bezeichnet werden, für uns relevant sein. Sie dienen uns als praktische Orientierung, wie weit wir auf unserer spirituellen Reise schon vorangeschritten sind. Und im transpersonalen Zustand von Nirvana (Auflösung) oder Moksha (Befreiung) scheint das ganze Leben nur noch von diesen Qualitäten bestimmt und durchdrungen zu sein.
Bevor wir jeden dieser vier Bereiche genauer betrachten, möchte ich mit einem persönlichen Beispiel den Zusammenhang zum Alltag herstellen. Seit meiner frühesten Kindheit ist mein Vater leidenschaftlicher Hobbyjäger, und wenn ich zusah, wie das erlegte Wild aufgeschnitten, ausgenommen und dann gehäutet wurde, erlebte ich eine ganze Palette von menschlichen Regungen: Traurigkeit, Wut, Angst, Gleichgültigkeit, Faszination oder sogar Vorfreude auf den herrlichen Wildbraten, da ich noch nicht Vegetarier war.
In einer ausgeglichenen und meditativen Verfassung würden sich wahrscheinlich andere Gefühle zeigen: Ich […]