Erst wenn wir nichts mehr tun und nichts mehr kontrollieren wollen, fließt uns eine enorme Lebenskraft zu – Steven Harrison über den ‚Mythos Erleuchtung‘
Martin Frischknecht sprach mit Steven Harrison, Autor u.a. der provokant-erfrischenden Bücher „Nichts tun. Am Ende der spirituellen Suche“ und „Sei, wo du bist. Leben als Meditation“, über die Demontage scheinbarer Gewissheiten, das Problem bei der Kommunikation mit Wörtern und den Mythos Erleuchtung
Martin Frischknecht: Nichts tun – wie wunderbar einfach das klingt! Doch wenn es darum geht, das auch zu leben, fällt die Sache schwer. Ist „Nichts tun“ denn ein Ding der Unmöglichkeit?
Steven Harrison: Was ich meine, ist nicht schwer zu verwirklichen. Es geht einfach darum, unsere Geisteszustände als das hinzunehmen, was sie sind, sie nicht ordnen und nicht bessern zu wollen. Nicht das Denken halte ich für das Problem, sondern den Denkenden selbst. Wir brauchen uns nicht darum zu bemühen, das Innenleben mit seinen Gedanken und Gefühlen in den Griff zu bekommen. Wir brauchen in diesem Bereich gar nichts zu tun, weder die Dinge auszuagieren noch sie zu unterdrücken.
Manch ein spiritueller Sucher labt seine Seele an der Meditation. Einige ruhige Minuten am Tag, einige stille Tage im Jahr, ist das kein sicherer Weg zur Erleuchtung?
Solche spirituellen Aktivitäten zeigen an, dass in unserem Leben etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Warum bringen wir nicht unser Leben als Ganzes wieder ins Gleichgewicht, statt ab und zu mit Meditation ein bisschen Stressabbau zu betreiben? Ruhig sitzen ist für mich ein Ausdruck dafür, dass es nichts anderes zu tun gibt. Um das zu tun, braucht es kein Ziel.
Was passt dir nicht an der Erleuchtung?
Dagegen habe ich nichts einzuwenden, denn mit etwas, das es nicht gibt, lässt sich schlecht streiten. Im Bereich des Denkens und der Konzepte kommt solchen Mythen zwar einige Bedeutung zu, doch eine faktische Wirklichkeit haben sie nicht. „Erleuchtung“ ist ein Mythos, eine Bürde auf den Schultern derer, die sie sich zu ihrem Ziel gemacht haben; und wer von sich behauptet, erleuchtet zu sein, unterliegt einer Selbsttäuschung.
Warum bist du als Mystiker so sehr darauf aus, scheinbare Gewissheiten zu demontieren?
Unser Denkvermögen ist ein abgefeimter, hochkomplexer und hyperaktiver Apparat. Aus allem und jedem fertigen wir ein Konzept und geistige Handelsgüter. Auch […]