Von der Atembeobachtung zur gezielten Erkundung und Weitung der Atemräume .
Im ersten Beitrag dieser Serie sprachen wir vom Hinschauen und Beobachten: Bevor wir beginnen, den Atem gezielt zu lenken, wie das im Pranayama geschieht, ist es wichtig, ihn zunächst in seinem natürlichen oder normalen Zustand zu erleben. Das Wort „normal“ trifft es besser als der Begriff „natürlich“, weil im Alltag nicht alle Menschen einen natürlich-gesunden, sanft-fließenden Atem haben. Dysfunktionale Muster wie zum Beispiel ein unrhythmischer oder chronisch verstärkter Atem sind ein häufig anzutreffendes Phänomen und für viele Menschen ihr Normalzustand. Das spürende und beobachtende In-Kontakt-Gehen mit der eigenen Atmung, wie es im Praxisteil des letzten Beitrags vorgestellt wurde, ist wichtig, um den eigenen Atem, wie er sich im Moment zeigt, erlebend zu begreifen, bevor man mit intensiveren Pranayama-Übungen beginnt. Der Atem sollte uns zum guten Freund werden. Eine Atembeobachtungspraxis von zweimal 20 Minuten am Tag über mehrere Wochen hinweg ist eine gute Vorbereitung dafür.
Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Brustschmerzen, Asthma, COPD, Migräne, Nierenerkrankungen, Glaukom, Ängsten oder Depressionen würde man ein klassisches Pranayama, dessen zentrales Merkmal willentlich verlängerte Atemanhalte oder Kumbhakas sind, nicht empfehlen, bevor sie zu einer gesunden Atmung im Alltag gefunden haben, mit welcher in der Regel auch eine deutliche Verbesserung ihrer Beschwerden einhergeht. Das gilt auch für die Übungen, die ich in diesem Beitrag vorstellen möchte. Diese sind zwar noch kein Pranayama im klassischen Sinne, sondern eine Erweiterung der Idee der Atembeobachtung. Darüber hinaus stellen sie aber ein erstes Eingreifen in den Atemprozess dar, das – je nachdem, wie man übt – auch intensiver sein kann. Ich nenne diese Praxis die Erkundung der Atemräume.
Wohin fließt der Atem?
Ein für die Atemarbeit wichtiger Aspekt dreht sich um die Frage, wohin der Atem fließen kann oder soll, welche Bereiche unseres Körpers wir also mit dem Atem füllen. Hier klingt die Idee eines Gefäßes an. Genauso stellen sich die Yogis den Körper bei der Atem-
arbeit vor. Einer der grundlegenden Texte des klassischen Hatha-Yoga, die Gheranda-Samhita aus dem 17. Jahrhundert, verwendet den Sanskrit-Begriff Gatha, also Krug oder Gefäß. Der gesamte yogische Weg wird dort als Gatha-Yoga beschrieben, und die Atempraxis bildet dessen Herzstück, so wie das auch in anderen klassischen Hatha-Texten, wie der Hatha-Yoga-Pradipika (14. Jh.), der Fall […]