Zu oft hören wir von Verletzungen im Yoga und Vorurteilen, dass Yoga ungesund sei und nichts für den durchschnittlichen Menschen, dem es an unbegrenzter Flexibilität mangelt.
Durch die neuen Medien wie Instagram und Co werden Bilder nach Außen transportiert, die nicht zwingend repräsentativ für eine gesunde Ausrichtung der jeweiligen Asana sind und viele, vor allem jüngere Praktizierende, eifern einem Ideal der perfekten Haltung nach – welche es de facto aber so gar nicht gibt!
Sich inspirieren zu lassen und zu sehen, was andere Körper alles können, finde ich toll und anregend. Durch eine regelmäßige und konstante Praxis werden irgendwann Dinge möglich, die du dir vielleicht nie zugetraut hättest. Wichtig dabei ist aber vielmehr, die Disziplin und den eigenen Körper zu spüren und dem entsprechend sanft zu üben und gut zu dir zu sein. Sonst entstehen eben doch Verletzungen und du gibst deine Praxis eventuell sogar auf. Schuld daran ist dann nicht die Yoga-Praxis als solche, sondern dein eigenes Ego – oder aber leider manchmal auch jenes deines ehrgeizigen Lehrers.
Auch ich persönlich zähle nicht zu den extrem flexiblen Menschen. Selbst nach fünf Jahren täglicher Praxis wollen meine Hände einfach nicht so den Boden berühren, wie es auf den Bildern einer klassischen Vorwärtsbeuge zu sehen ist. Das liegt zum einem an der Kompression in meiner Hüfte – zum anderen spüre ich aber dennoch die Dehnung meiner Beinrückseiten. Es ist vollkommen egal, wie eine Haltung bei dir aussehen mag. Wichtig ist, wie sie sich von innen anfühlt, und ob du den Bereich, der in der jeweiligen Haltung gedehnt oder gestärkt werden möchte, spürst.
Eine perfekte Haltung
Wir sollten eine gesunde Distanz einnehmen zu der „perfekten“ Haltung, wie wir sie in Büchern oder auf Social Media sehen, um die jeweils für unseren eigenen Körper zum jeweiligen Zeitpunkt perfekte Position zu finden. Und diese kann je nach Tagesform jeden Tag anders sein. Wie aber kam es zu diesem Trend, für praktisch jedes Körperteil die „richtige“ Ausrichtung in den Asanas zu setzen, ohne dabei die Individualität der eigenen Anatomie im Blick zu haben? Und wie kann ich selbst besser verstehen, wann eine Dehnung gesund ist und wann ich aufpassen sollte?
Der Ursprung der Ausrichtungsprinzipien
Die heute immer noch zahlreich angewendeten Ausrichtungsprinzipien sind nicht grundlegend falsch – aber wir sollten nicht ohne nachzudenken alles übernehmen und vor allem zu strikt anwenden. Wichtig ist dabei, sich vor Augen zu führen, wie es zu diesen Prinzipien kam und warum Alignment heute so eine große Rolle spielt. Als Yoga Ende der 80er-Jahre plötzlich hip und trendig wurde, fehlte es ganz einfach an gut ausgebildeten Lehrern. Yoga war im Westen noch recht neu und unbekannt und plötzlich gab es großes Interesse, auch seitens der Fitnessstudios, Yogakurse anzubieten. Daraufhin kam es zu zahlreichen 200-Stunden-Ausbildungen, in welchen die Grundsätze des Yoga vermittelt werden sollten, um möglichst schnell den Bedarf an Yogalehrern zu decken. Natürlich viel zu knapp und gerade heutzutage eher als Einstieg gedacht, machten sich nach der oftmals in einem Monat absolvierten Ausbildung die Lehrer motiviert aber oftmals noch ohne Erfahrung ans Unterrichten. Als Vereinfachung der Ausbildung und durch die Beschränkung der 200 Stunden wurden Asanas mit bestimmten Ausrichtungsmerkmalen gelehrt. Zur Vermittlung eines groben Bildes einer Haltung bis zu einem gewissen Maße sicher sinnvoll, aber leider gibt es unter uns Lehrern kleine Diktatoren, die alles exakt so weitergeben, wie sie es einmal gelernt haben und die Stellung der rechten Ferse im Krieger 2 beispielsweise nur auf diese Weise akzeptieren. Dies mag für Person A super funktionieren, bei Person B wird es auf Dauer den Körper schädigen.
Funktionalität im Unterricht
Wir müssen den menschlichen Körper holistisch und zugleich in seiner Einzigartigkeit betrachten und meiner Meinung nach viel mehr Anatomie und Funktionalität unterrichten. Wenn der Schüler weiß, wo er etwas spüren soll, darf er wie ein Forscher nach Innen schauen, anstatt im Außen zu sein und sich mit dem Mattennachbarn zu vergleichen, weil bei diesem die Asana ganz anders aussieht. Und leider passiert dies noch viel zu oft!
Der funktionale Ansatz wird besonders im Yin Yoga gelehrt. Natürlich gibt es in Yin-Stunden einerseits viel mehr Zeit, eine Haltung einzunehmen und bewusst wahrzunehmen. Andererseits könnte der Lehrer aber auch in dynamischen Stunden darauf achten, eher darauf einzugehen, wo eine Haltung spürbar sein könnte, anstatt zu sehr dessen detaillierte Ausrichtung zu beschreiben. Die Idee der Einzigartigkeit des eigenen Körpers, wie es sehr schön in Bernie Clarks Buch „Mein Körper, mein Yoga“ beschrieben wird, ist ein Fakt und sollte viel mehr berücksichtigt werden. Auch bin ich der Meinung das unsere Körper eine natürliche Grundintelligenz haben und Asanas so ausführen, wie es für uns individuell gut ist – wenn wir unseren Körper lassen.
Dehnung versus Kompression
Zu viele Praktizierende sind sich nicht bewusst, wie einzigartig ihr eigener Körperbau und ihre Knochenstruktur ist – und dass es daher unmöglich ist, dass dieselbe Haltung bei jedem gleich aussieht. Selbst asymmetrische Übungen werden rechts nie genauso sein wie links. Ich möchte gern zu mehr Selbstverantwortung aufrufen und kurz beschreiben, wie du selbst für dich deine eigenen Grenzen besser erforschen kannst.
Was kann deine Flexibilität beeinflussen? Zum einen ist es Dehnung, welche jedem ein Begriff ist – aber es gibt noch andere Faktoren.
Was ist eine Dehnung? Eine Dehnung ist oft im Gewebe und flächig zu spüren: Bernie definiert Dehnung als zwei Punkte, die sich voneinander wegbewegen. Spürst du Dehnung, kann dich dies in deiner Bewegung einschränken. An Restriktion einer Haltung durch Dehnung können wir arbeiten – mit der Zeit wirst du Verbesserung spüren.
Daneben gibt es als weiteren Punkt die sogenannte Kompression. Dies ist definiert als zwei Punkte, die sich aufeinander hinbewegen. Das können Knochen sein, genauso aber auch Weichteile. Kompression ist oftmals sehr punktuell und als spitzer Schmerz fühlbar. Gehen wir zu sehr in die Kompression, wiederholen diese beispielsweise mehrmals täglich über einen längeren Zeitraum, kann dies im schlimmsten Fall zu Knochenabnutzung (Arthrose) führen. Sanfte, bewusste Stimulation durch Kompression kann das Gewebe anregen, gesund zu bleiben. Wichtig ist aber, sich dessen bewusst zu werden und zu unterscheiden, ob es sich gerade um Dehnung oder Kompression handelt.
Wichtig ist auch zu wissen, dass die Flexibilität im Körper nicht allein die Dehnung der Muskeln ist. Bernie listet in seinem Buch Yinsights. A Journey Into the Philosophy & Practice of Yin Yoga folgende Bereiche von Resistenzen im Körper auf: die Muskeln und deren Faszien machen 41 Prozent aus, 10 Prozent unsere Sehnen, 2 Prozent die Haut und sogar 47 Prozent unser Bindegewebe und unsere Gelenkkapseln! Während dynamisches Üben sehr förderlich für die Dehnung der Muskeln ist, dehnen wir im sanfteren Yin auch die Gelenkkapseln. Auch hier gibt es kein Besser oder Schlechter, sondern es wäre wichtig, beides in der eigenen Praxis zu üben.
Vorwärtsbeugen
Nehmen wir als Beispiel nochmal die Vorwärtsbeuge. Hauptidee dieser Asana ist die Dehnung der Körperrückseite. Spürst du während der Vorbeuge deinen Rücken oder die Beinrückseite bist du in der Dehnung – dabei ist vollkommen egal, ob deine Hände gerade den Boden berühren oder nicht. Nimm gerne auch einen Block zu Hilfe. Gut hierbei wäre auch eine Variation: Halt die Knie leicht gebeugt, wenn du daher eher die Dehnung im Rücken spürst. Lass die Beine beim nächsten Mal dann gerne gestreckt, um bewusster die Beinrückseiten zu dehnen. Machen wir immer nur das eine oder andere, werden wir nie unser ganzes Potenzial nutzen. Spüren wir hingegen Schmerzen auf der Körpervorderseite, handelt es sich sehr wahrscheinlich um Kompression. Diese könnte eine weiche Kompression sein, beispielsweise während der Schwangerschaft, wenn der Bauch an den Oberschenkel stößt und damit die Dehnung der Rückseite unterbindet. Genauso könnte es aber auch wie in meinem Fall sein, dass der Hüftknochen an den Oberschenkelhals stößt und damit Bewegung verhindert. Würde ich dennoch versuchen, hier mit Gewalt zu üben, und mich jeden Tag in Haltungen zwingen, wie ich sie in den Medien sehe, tut dies meinem Körper nicht gut. Ich kann stattdessen zum Beispiel versuchen, mit Rotation der Hüfte zu arbeiten, um so den Kompressionspunkt zu verändern.
Svadhyaya – erforsche dich selbst
Hier darf letztendlich jeder selbst erforschen, wann er wie weit gehen kann und was der Körper als wohlig empfindet. Traditionell wurde Yoga in Indien oft 1:1 unterrichtet – damals betrachtete der Lehrer die Individualität seines Schülers. In der Masse der Schüler und der stetig wachsenden Nachfrage heutzutage ist dies schwer leistbar. Daher ist es meiner Meinung nach umso wichtiger, in die Eigenverantwortung zu gehen und sich selbst die bekannte Frage zu stellen: „Was stoppt mich?“ Spüre ich Dehnung? Ist es Kompression und sollte ich dann vielleicht eher ein wenig aus der Haltung gehen? Svadhyaya, dass schon bei Patanjali beschriebene Selbststudium auf dem achtgliedrigen Pfad – erforsche dich selbst! Genieße es, dich selbst zu spüren und das zu tun, was für dich persönlich richtig und gut ist! Ein weiterer Indikator dabei ist deine eigene Atmung. Ist diese ruhig und bewusst, ist es unwahrscheinlicher, dass du dich überforderst oder verletzt. Wie Norman Blair einmal so schön gesagt hat, die Länge der Atmung ist viel wichtiger als die Länge deiner Beinrückseiten. Wir sollten Yogahaltungen dafür nutzen, in unseren Körper zu kommen, anstatt den Körper in eine Pose zu zwingen.
Schon Krishnamacharya hatte gesagt, nicht der Mensch sollte sich dem Yoga anpassen, sondern der Yoga dem Menschen! Dies können wir uns selbst nicht oft genug wiederholen.