Immer mehr Menschen suchen im Yin-Yoga einen Ausgleich zu Yang-orientierten Stilen. Es scheint, als ob Yoga eine Art Pendelbewegung vollziehen würde. Doch was liegt in der Mitte dieser beiden Pole und wie können wir Asanas wirklich begegnen?
Gut 15 Jahre ist es her, dass die Welle der Ashtanga- und Vinyasa-Stile aus den USA auch zu uns nach Europa kam. Eine athletisch anmutende, körperlich stark fordernde und energetisch intensive Praxis begann sich innerhalb kürzester Zeit auch in Deutschland fest zu etablieren. Mit den neuen Stilen kamen auch die großen, mehrräumigen Studios in den Großstädten, die Yoga zu jeder Tageszeit und in allen „Geschmacksrichtungen“ anboten. Die „Yogastunde“ hieß plötzlich „Class“, und die kuscheligen Schurwollmatten wurden gegen rutschfeste „Sticky Mats“ getauscht. Heute, 15 Jahre später, schlägt das Pendel wieder in die Gegenrichtung, und der in den letzten Jahren zum großen Trend erklärte sanfte „Yin-Yoga“ wird den bisherigen Stilen nun als komplementäre Ergänzung entgegengesetzt.
Diese Modewellen und Trends sind wohl auch der Preis dafür, dass Yoga heute endgültig in der Gesellschaft „angekommen“ ist, wie man es heute zu formulieren gewöhnt ist. Was aber, wenn wir Yoga – so wie wir ihn heute im Westen vorfinden – nicht als etwas Abgeschlossenes ansehen, sondern ihn als in einer lebendigen Entwicklung stehend begreifen? Bei längerer Überlegung könnte man nämlich auch auf den Gedanken kommen, dass sich hinter den zwischen den Trends hin- und herpendelnden Stilen auch etwas Tieferes verbergen könnte. Könnte es sein, dass sich darin eine uns noch unbewusste Suche nach einer die Stilgegensätze überwindenden, höheren Synthese spiegelt, welche wir im modernen Yoga bisher noch nicht finden konnten?
Vermittlung und Ausgleich zwischen Gegensätzen
Das Prinzip komplementärer Gegensätze ist im menschlichen Leben allgegenwärtig. So gilt beispielsweise der Osten seit Menschengedenken als Heimat der Spiritualität und der meditativen Introspektion. Dem gegenüber steht der Westen, wo wir mehr die äußere, auf die Umgestaltung der Welt gerichtete Tatkraft verorten. Selbst wenn wir mittlerweile in einer globalisierten Weltkultur leben, welche weitgehend vom „Westen“ und seinen materiellen Idealen bestimmt wird, leben wir dennoch als „Mitteleuropäer“ in einer Weltzone, die zwischen den Orient und dem Okzident mit ihren gegensätzlichen Einflüssen eingespannt ist und die, gerade aufgrund dieser Lage, eine besondere Rolle in Bezug auf Vermittlung und Ausgleich der großen Welt- und Bewusstseinsgegensätze […]