Auf dem spirituellen Weg ist eine Mischung aus unerschöpflicher Disziplin und Gleichmut erforderlich. Und dann gibt es Momente, da geht während eines Meditationsretreats oder in einer Yogastunde plötzlich eine Tür auf – und nichts ist mehr so wie vorher. Was für ein großes Geschenk! Bei wem die Tür dann aufgeht, ist eigentlich zweitrangig. Entscheidend ist, dass es passiert.
Als ich vor kurzem wieder einmal meine Achtsamkeitstage im Allgäu abhielt, sprach mich nach der ersten Sequenz eine Frau an. Mit einem Strahlen in den Augen erzählte sie mir, dass sie bereits im letzten Jahr an meinen Achtsamkeitstagen teilgenommen hatte. Diese hätten ihr gesamtes Leben verändert und sie sei mir unendlich dankbar dafür! Ihre dreißigjährige Ehe sei nicht mehr die gleiche. Ihre Einstellung zu sich und zu ihrem Leben habe sich ebenfalls sehr positiv verändert. Und ja, sie sei mir wirklich sehr dankbar!
Im ersten Moment war ich zutiefst gerührt und mit einem gewissen Stolz erfüllt, dass ich in der Lage bin, Menschen in einem solchen Ausmaß zu inspirieren und so sehr zu berühren, dass sich ihr Leben ändert. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr zweifelte ich an meinem Einfluss auf die umwälzende Veränderung im Leben dieser Frau.
Die eine Methode gibt es nicht!
Ich kam zu dem Schluss, dass es keineswegs mein alleiniger Verdienst ist, dass die Teilnehmerin meiner Achtsamkeitstage diese glückliche Veränderung in ihrem Leben erfahren durfte. Meiner Meinung nach gibt es nämlich nicht die eine Methode, die das gesamte Leben eines Suchenden verändert. Es gibt auch nicht den einen Lehrer, der einem Menschen zum Erwachen verhilft.
Meiner Ansicht nach begegnet ein Mensch auf seiner eigenen Reise zu mehr Achtsamkeit im Laufe seines Lebens verschiedenen Methoden und Lehrern. Jede Erfahrung, die wir machen, kann einen Schritt in Richtung Erwachen bedeuten. Jedes Einlassen auf eine spirituelle Praxis öffnet das eigene Bewusstsein ein wenig mehr. Jede spirituelle Übung, die wir machen und alle Zeit, die wir uns selber schenken, reinigt den eigenen Geist. Jede Meditation, die wir machen, führt uns näher zu unserer Quelle. Von der Gesamtheit dieser Erfahrungen getragen kann es dazu kommen, dass ein einzelner Satz und eine winzige Berührung im Herzen eine wichtige und manchmal auch wesentliche Tür für uns öffnet. Es muss nur der richtige Moment sein, um dafür offen zu sein.
Der rechte Moment
Vor vielen Jahren hörte ich einen Satz von Lama Thubten Yeshe, der mich zutiefst berührte und der mich seitdem begleitet: „Man muss die Wahrheit 1000 Mal hören, bevor sie Wirklichkeit wird.“ Dieser Satz beschreibt für mich perfekt den eigenen Weg zu tiefgreifender Veränderung.
Vielleicht habe ich in meinem Seminar den einen ausschlaggebenden Satz gesagt, der dazu geführt hat, dass sich eine ganz wichtige Tür im Innern dieser Frau öffnete. Vielleicht habe ich etwas gesagt, dass sie zwar bereits viele Male zuvor gehört hat, aber in diesem Moment zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Wie oft hat ihr vielleicht eine andere Lehrerin genau die gleichen Worte gesagt? Wie häufig hat sie vielleicht genau die gleichen Worte gelesen? Aber scheinbar war sie die vielen Male davor noch nicht bereit, von alten Haltungen und Meinungen loszulassen, und vielleicht war sie erst jetzt bereit für diesen nächsten Entwicklungsschritt.
Für die Frau fühlte es sich in diesem Moment vielleicht so an, als hätte ich oder als hätten meine Übungen eine elementare Veränderung bewirkt. Doch im Grunde haben es alle vorhergegangenen Lehrer, Übungen und Bemühungen möglich gemacht, dass diese Tür geöffnete wurde.
In meinen Augen kann die Frau eher sehr stolz auf sich selbst sein, dass sie all die Jahre auf dem Weg geblieben ist. Sie kann sich selbst dafür loben, dass all die Bemühungen, die sie im Laufe dieses Lebens getätigt hat, jetzt zum Tragen kommen (und vielleicht auch die aus vorherigen Leben). Denn nur sie selbst ist die Person, die für diese Veränderung verantwortlich ist.
Inspirieren
Die Erkenntnis, dass der eigene Unterricht nicht den einen fundamentalen und alles verändernden Impuls setzt, ist vielleicht hilfreich, um sich in seiner Rolle als Yoga- oder Achtsamkeitslehrer nicht zu wichtig zu nehmen. Für mich ist es bereits ein Segen, wenn ich einen Menschen mit meiner Arbeit dahingehend motivieren kann, nach innen zu schauen – weg von mir als äußere Lehrerin und hin zu dem größten Lehrer, den wir jemals finden können: uns selbst.
Natürlich berührt mich das Erwachen der Frau und ich bin auch sehr glücklich darüber. Aber nicht deshalb, weil meine eigene Methode Anklang gefunden hat. Es ist eher dieses Gefühl, dass ich ein kleiner Teil dieser glücklichen Veränderung sein durfte und ich mich somit mit all den Menschen vor mir verbinde, die dieser Frau begegnet sind und dazu beigetragen haben, dass ein Mensch wieder einmal den Schleier der Illusion lüften konnte.
Eigentlich hätte ich dieser Frau danken müssen. Denn durch die Reflexion ihrer Aussage hat sie mir wieder einmal bewusst gemacht, wie wichtig es als Lehrer ist, den Weg zur inneren Tür zu weisen bzw. den Weg dorthin frei zu machen, anstatt uns in den Türrahmen zu stellen und uns für unverzichtbar zu halten.