Yongey Mingyur Rinpoche, den wir als wiedergeborenen Lehrer tibetischer Weisheit und Autor zahlreicher Bücher kennen und schätzen, verbindet in dieser außergewöhnlichen autobiografischen Erzählung Denken, Erkennen, Meditation und Leben auf ungewohnte und erfrischende Weise und gewährt uns ungeschützten authentischen Einblick in das psycho-physische Geschehen auf dem Weg der Wandlung.
Im Gewahrsein zuhause
Im Juni 2011 verlässt der bekannte und berühmte Lehrer mit 36 Jahren wie einst Siddartha heimlich die Sicherheit und Geborgenheit seines Klosters, um „Öl ins Feuer“ seiner Übung zu gießen, auf die identitätsstützenden Attribute seiner Herkunft, Sozialisation, Ausbildung, auf Titel und Zeichen zu verzichten und erstmals im Leben auf sich allein gestellt zu sein. Ausführlich und eindrucksvoll schildert er die mit der absichtlichen Demontage seiner Identität verbundenen inneren und äußeren Erlebnisse und gewährt auf diese Weise außergewöhnliche Einblicke in die verschiedenen Techniken, die letztlich dazu dienen, den illusorischen Charakter unseres Selbstbildes und unserer vielfältig konditionierten Wahrnehmungen zu enthüllen und aufzulösen. Der Alltag mit seinen banalen Anforderungen und Schwierigkeiten und tibetische Weisheit und Lehre durchdringen sich dabei auf anschauliche, immer wieder auch selbstironische und humorvolle Weise.
Niemand zu werden, von anderen nicht mehr in gewohnter Weise anerkannt, bewundert und versorgt zu werden und zurückgeworfen zu sein auf sich selbst, stellt eine intensive Herausforderung dar. Die Lehren zu kennen, intellektuell verstanden zu haben und sie auch weitergeben zu können ist das Eine. Sie auch unter schwierigen Umständen anzuwenden und zu verwirklichen etwas Anderes. Wenn auch das durch Übung erlangte intensive Wissen bereits eine Art von Erfahrung darstellt, in der man sich einrichten und die man leicht mit der wirklichen Erfahrung verwechseln kann, stellen die Erzählung vom Mond, sein Bild in einem Buch, sein Spiegelbild auf dem Wasser und der direkte Anblick am nächtlichen Himmel doch unterschiedliche Stufen der Erfahrung dar. Yongey Mingyur Rinpoche erkennt bereits in den ersten Stunden und Tagen, denen der Hauptteil des Buches gewidmet ist, dass sein bisheriges gutes Leben von vielfältigen günstigen Bedingungen abhängig war, es aber darauf ankommt, eine befreite Lebensweise unter allen Umständen zu verwirklichen. Dass der Abschied von seiner bisherigen Identität, seinen Rollen, Beziehungen sich auch mit dem heimlichen Aufbruch nicht plötzlich und ein für alle Mal vollzieht, gehört zu den ersten wichtigen Einsichten. Geduld ist gefragt, Entschlossenheit, Disziplin. Der Aufbruch, der mit einem Aufbrechen, Zerbrechen lebenslanger Gewohnheiten, Konditionierung, Muster des ICH einhergeht, ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein Prozess. Wer sich darauf einlässt, befindet sich „dazwischen“, im Unterwegs, im Bardo der Hauslosigkeit. Folgerichtig verabschiedet er sich auch von seiner tibetischen Robe und kleidet sich in das organgenfarbige Gewand eines Sadhus, entschlossen, künftig alles anzunehmen, was sich ihm bietet. Er besucht wichtige Gedenkstätten des Lebens des Buddha und vertieft auf diesem Pilgerweg die grundlegenden buddhistischen Erkenntnisse und die Erfahrung des Nirwana. Die Sehnsucht, überall in der Welt zuhause zu sein, unabhängig von äußerlichen Gegebenheiten, erfüllt sich nur in der Erkenntnis des reinen Gewahrseins. Projektionen, Vorlieben, Abneigungen des ICH werfen uns gewöhnlich unbeständig auf den Wellen des Alltags-Meeres auf und ab. Doch schon die Achtsamkeit auf den Atem lehrt uns, dass es zwischen Ein- und Ausatmen ein Verweilen, eine Lücke gibt. Auch der ständige Fluss der Gedanken weist solche Lücken auf. In ihnen erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf das wertungsfreie Sosein. Beständige Übung kann diese Erfahrung des reinen Gewahrseins vertiefen und erweitern. Sie schafft Raum, in dem alles geschieht und vorüberzieht, ohne dass wir daran hängen. Raum und Gewahrsein werden identisch. Wir ruhen in der lichtvollen Klarheit des Gewahrseins. Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob wir wachen oder träumen. Das reine Gewahrsein transzendiert das begriffliche Denken, die dualistische Weltsicht. Wir sind dieser Bezug zu allem, der zugleich Leere, Licht, Fülle ist, während wir uns zugleich weiter in der alltäglichen Welt bewegen. Immer wieder führt uns Yongey Mingyur Rinpoche diese Übung in alltäglichen Situationen vor, in denen er sich selbst nackt, entblößt, hilflos, verletzlich zeigt. Das reine Gewahrsein ist wie das Licht eines Projektors, der die unterschiedlichsten Bilder, Filme, Geschichten auf die Leinwand wirft, selbst aber davon völlig unbeeinträchtigt bleibt und fortdauert, wenn keine Bilder mehr projiziert werden. Aber auch, wenn das ganz normale Leben sich als „Dazwischen“, als Bardo, erweist, nicht nur jeder Tag, sondern jede Stunde Tod und Wiedergeburt, Abschied und Anfang birgt, gibt es besondere Situationen, die uns außergewöhnliche Chancen zur Erkenntnis der Leerheit, des hellen klaren Lichtes des reinen Gewahrseins bieten. Nahtoderfahrungen gehören dazu. Und eine solche durchlebt Yongey Mingyur Rinpoche ausgerechnet am Gedenkstupa des Paranirvana des Buddha, nachdem er erstmals erbettelte Nahrung zu sich genommen und – wie Buddha vor seinem Tod – sich dabei eine Magenvergiftung zugezogen hat. Anders als Buddha geht er nach dem bewussten Erleben der Auflösungsstadien des Bewusstseins, aber nicht endgültig in die absolute glückselige Wirklichkeit ein, sondern kehrt vor Erreichen des endgültigen Höhepunktes um, zurück in seine leibhafte irdische Wirklichkeit. Nicht bewusst, nicht freiwillig, aber es verwehrt ihm auch niemand die Weiterreise, den endgültigen Ausstieg aus dem Rad des Lebens, niemand schickt ihn mit einem Auftrag zurück.
Die traumähnliche Rückkehr ins Leben aber verändert alles – und nichts. Die, wenn auch nur kurze intensive Erfahrung des hellen klaren Lichtes, hat einen Teil der lebenslangen Konditionierungen gelöscht. Er fühlt sich durchdrungen von Leerheit, Klarheit, Frische, voller Energie, bereit für das, was kommt. Mit der Konditionierung wurde die Zentrierung des kleinen ICH ausgelöscht. Zwar weiß Yongey Mingyur Rinpoche bei seiner allmählichen Rückkehr in unsere Raum-Zeit wieder, wer er ist. Er erinnert sich und kennt seinen Auftrag, dem er sich weiter liebend gern hingeben will und wird: Anderen zu dieser Erfahrung des Erwachens zu verhelfen. Aber die Ich-Zentrierung ist gelockert, weitgehend verschwunden. Wie alles, ist auch ICH nur ein Name, eine Bezeichnung ohne feste unveränderliche Bedeutung. Im Gewahrsein offener Weite zu ruhen bedeutet, nicht weiter gegen die Mauern unablässiger dualistischer Sprach- und Denkspiele anzurennen. Die Dinge sind wie sie sind. Das Leben ist ein Traum. Aber es ist dennoch ganz wirklich.
In Wirklichkeit spielen solche Unterscheidungen keine Rolle. Nichts ändert sich. Und doch ist alles ganz anders. Nachdem er in einem Krankenhaus, wohin ihn ein freundlicher und hilfsbereiter Asiate, der ihn in seinem kritischen Gesundheitszustand gefunden hatte, gebracht und für den Aufenthalt bezahlt hatte, aufgewacht und wieder zu Kräften gekommen ist, verbringt er weitere viereinhalb Jahre als Wandermönch unterwegs, ohne Ansprüche, ohne Besitz, ohne gesellschaftlich definierte und anerkannte Identität, bereit für das, was kommt, mit der einzigen Gewissheit der durch Erfahrung bestätigten tibetischen Tradition und Weisheit und der Sicherheit des in allen Lebenslagen immer unveränderlichen Gewahrseins. Sein lassen, entspannen, vorüberziehen lassen, annehmen und immer genau das tun, was zu tun ist.
Selten wurden buddhistische Einsichten so unmittelbar lebensnah übermittelt. Wer nicht mehr dazu neigt, den Finger mit dem Mond zu verwechseln, auf den er zeigt, wird dieses Buch dankbar in die Reihe seiner Lehrer und Meister aufnehmen.
Zum Weiterlesen:
Yongey Mingyur Rinpoche: Auf dem Weg. Eine Reise zum wahren Sinn des Lebens. München 2020, 383 S., EUR 20, ISBN: 9783 442 758 265