Die vielbeschriebene Yogalehrerausbildung: Du denkst, es ginge um Yoga. Und das tut es auch. Doch bevor wir unterrichten, bekommen wir die Chance, uns selbst zu heilen. Um das zu tun, müssen wir unsere Wunden nur erst einmal sehen wollen. Das könnte so leicht sein, stünde uns nicht das Ego im Weg …
„Nicht genug“ ist das Mantra unserer Zeit. Es ist so tief in unseren Köpfen, dass es vielleicht wehtut, wenn wir es an der Wurzel packen und herausziehen wollen.
Ich stehe im Kopfstand und schwitze. Mein Blick streift Kokospalmen, riesige Bambuspflanzen und Mangos, die mit dem Reifen beschäftigt sind. Das Licht ist ganz warm, jetzt, kurz vor der Abenddämmerung. Ich schließe die Augen, spüre meine Lunge angenehm leicht und höre das Geplauder der anderen, die sich gegenseitig assistieren. Ein Tropfen Brustschweiß landet auf meiner Unterlippe. Ich lecke ihn ab und bereue es sofort: Er ist gemischt mit Moskitospray. Ich lächle. Das Leben ist noch immer wunderbar.
Ich bin in Varkala, an der unteren Spitze des südindischen Bundesstaates Kerala. In Gods own country, wie sie es nennen, lasse ich mich in 200 Stunden zur Yogalehrerin ausbilden. Mit mir sind zwölf andere Menschen aus neun Nationen hier, hauptsächlich junge Frauen und hauptsächlich aus Europa. In der Shiva Rishi Yoga School, einem rosafarbenen Haus, nur fünf Minuten vom Strand entfernt, tauchen wir tiefer in den Yoga ein. Shiva ist ein langhaariger, fröhlicher Inder, der eigentlich anders heißt. Er unterrichtet morgens und abends jeweils zwei Stunden Asanas. Fünf andere Lehrer bringen uns im Laufe der Wochen Philosophie, Anatomie, Methodik, Pranayama und Ayurveda näher.
Leichtigkeit: schwerer als gedacht
Morgens um fünf werde ich vom Muezzin geweckt. Alle Hunde der Umgebung stimmen in sein leidenschaftliches „Allahu Akhbar“ ein. Ich gehe duschen, putze mir die Zähne und schlüpfe in Leggings und Shirt. Ich brauche keine Schminke. Keine von uns trägt hier Make-up. Dann schleiche ich mit Flasche und Yogamatte auf die große Dachterrasse. Ihr Boden ist in leuchtendem Orange gestrichen. Bunte Bänder schmücken die große Konstruktion aus Palmblättern, die uns hier tagsüber vor der Sonne schützt. Die anderen laufen nach und nach ein, bis um sechs Uhr Pranayamaji zu uns stößt.
Der alte Inder mit weißem Bart und weißer Robe unterrichtet uns in […]