Reparieren mit Gold – warum man Risse und scheinbare „Mängel“ nicht verstecken muss, sondern warum gerade im Nicht-Perfekten und in den Spuren gelebten Lebens Schönheit und Bedeutung liegen.
Makellos und perfekt, so lautet das Ideal. Wenn es nicht (mehr) von sich aus makellos und perfekt ist, dann soll es wenigstens so erscheinen. Die Haut glattgezogen oder unterspritzt, die Zähne so gleichmäßig und strahlend weiß, dass jeder auf den ersten Blick sieht: Die sind zu schön, um wahr zu sein. Haus, Beziehung, Urlaub – alles, alles ein Traum auf Instagram. „Wenn du zurückschaust, was bereust du?“ – „Nichts, ich habe alles richtig gemacht.“
Dass das echte Leben damit wenig zu tun hat, wusste der 2016 verstorbene kanadische Dichter, Komponist und Sänger Leonard Cohen: „There’s a crack in everything, that is how the light gets in.“ („Es gibt in allem einen Riss, so dringt das Licht ein.“) Der britische Geomant und spirituelle Lehrer Peter Dawkins sagt: „Das Herz muss brechen, damit die Liebe fließen kann.“
In Japan gibt es ein Wort dafür, dass genau im Unvollkommenen Schönheit und Bedeutsamkeit liegen. Die Wertschätzung von Einfachheit und Fehlerhaftigkeit heißt hier Wabi-Sabi. Der Ursprung von Wabi Sabi liegt im Zen-Buddhismus, eingeführt wurde der Begriff im 16. Jahrhundert. Kintsugi geht noch einen Schritt weiter. Damit bezeichnet man in Japan die uralte traditionelle Technik, zerbrochene Gegenstände aus Keramik oder Porzellan mit Urushi-Lack zu kleben, einem aus Harz bestehenden, besonders geeigneten Reparaturmaterial. Dabei werden Silber, Platin, vor allem aber pulverisiertes Gold eingearbeitet, wobei die Makel deutlich hervortreten. Kintsugi bedeutet so viel wie „Goldverbindung“ oder „Goldreparatur“. Der Riss wird nicht versteckt, sondern – im Gegenteil – betont. Er ist das Besondere, Individuelle, Kostbare, die Stelle „where the light gets in“.
Mehr als nur Reparatur – über Upcycling und über die seelische Dimension von Kintsugi
Die Ästhetik, die hinter Kintsugi steckt, heißt, wie gesagt, Wabi-Sabi. In einem Beitrag im Internet von Japandigest vom 2. Juli 2017 heißt es zu dem Stichwort: „Was der Ingenieur Reiner Pilz 1994 in einem Zeitschriftenartikel als ‚Upcycling‘ bezeichnete, ist vielleicht die europäische Antwort auf die japanische Wabi-Sabi-Philosophie. Pilz schrieb, Recycling sei für ihn Downcycling. ‚Was wir brauchen, ist Upcycling, das alten Dingen mehr Wert, nicht weniger, zuspricht.‘“
Genau hiermit beschäftigt sich der bekannte Psychoanalytiker […]