Meditation über die Einheit in der Vielfalt – Sri Aurobindos Vision von Europa und die gegenwärtigen Aussichten.
Irgendwann im Jahr 1990, bald nach der Wiedervereinigung, rief mich ein Bekannter an und teilte mir enthusiastisch mit, er habe dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ein Exemplar von Sri Aurobindos Werk Das Ideal einer geeinten Menschheit übersandt. Ich verstand seine Aktion; er wollte unseren damaligen Präsidenten auf Sri Aurobindos große gesellschaftliche und spirituelle Vision hinweisen, die er für die Zukunft der Menschheit schon vor sehr langer Zeit in seinem Buchtitel zum Ausdruck gebracht hatte. Allerdings dachte ich insgeheim, dass mein Bekannter wohl eine ernüchternde Erfahrung mit seinem Buchpräsent machen und bestenfalls eine formelle Bestätigung aus dem Präsidialamt erhalten würde.
Doch einige Wochen später meldete er sich wieder und las mir freudig aus Weizsäckers Schreiben vor. Dieser hatte persönlich geantwortet, mit einigen kurzen, bedeutsamen Sätzen, in denen er Sri Aurobindos Wirken zum Wohle Indiens und der ganzen Welt würdigte. Nun war ich leicht überrascht, denn Politiker wahren meist eine gewisse Distanz zur Welt der Spiritualität. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass Weizsäckers Bruder Carl Friedrich, der Physiker und Philosoph, einmal während einer Indienreise 1969 den Sri-Aurobindo-Ashram besucht und dort lange Gespräche mit einem Inder geführt hatte, der mir später darüber berichtete. Es ist also gut möglich, dass die beiden prominenten Brüder sich damals über den Integralyogi austauschten.
Wenn wir nach den ideellen und spirituellen Wurzeln des Neuen Europa forschen, werden wir in dem genannten Werk fündig. Im Original trägt es den Titel The Ideal of Human Unity und geht zurück auf eine Reihe von Essays, die Sri Aurobindo vor hundert Jahren zunächst in einer Zeitschrift veröffentlichte, woraufhin sie dann im Jahr 1919 erstmals als Buch erschienen. In späteren Jahrzehnten überarbeitete er den Inhalt ein wenig im Einklang mit aktuellen politischen Entwicklungen, zuletzt 1949. In Kapitel I,10 finden wir die Überschrift „The United States of Europe“. Das Thema Europa war vertrautes Terrain für ihn, denn er hatte vom siebten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr in England gelebt und u.a. in Cambridge studiert, kannte sich bestens in der europäischen Literatur und Geschichte aus und beherrschte mehrere Sprachen des Kontinents.
Sri Aurobindos Vision der Einheit
In dem Kapitel führt er aus, dass die Zeit des Imperialismus zu Ende […]