Der von Descartes nachgelassenem Werk De homine übernommene Titel macht den philosophischen Anspruch deutlich, den diese, sein Lebenswerk zusammenfassende Bilanz erhebt. Es geht Gerhard Roth nicht weniger als um eine neurowissenschaftliche Fundierung oder Reformulierung der großen philosophischen Fragen, im Besonderen nach dem Zusammenhang von Geist und Natur, Körper, Gehirn, Bewusstsein, Seele, Welt, der Freiheit des Willens und der Verantwortung und Schuld des Menschen und damit letztlich um ein neues Bild vom Menschen, das nicht zuletzt in der Rechtsprechung, in Bestrafung und Therapie Beachtung und Anwendung finden soll.
Es wundert daher nicht, dass Roth den von Dilthey herausgearbeiteten Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften, von Erklären und Verstehen wieder aufgreift, den der alte Dilthey bereits selbst in Frage gestellt hat. Trotz des enormen Fortschritts, den die Neurowissenschaften dank neuer bildgebender Verfahren seit 2010 gemacht haben, räumt Roth ein, dass Wesen und Entstehung des Bewusstseins letztlich immer noch ungeklärt ist. Was die Neurowissenschaften seit den epochemachenden Experimenten von Benjamin Libet herausgefunden haben, ist gleichwohl beeindruckend. Besonders irritierend dabei ist, dass bewussten Willensentscheidungen nachweislich neuronale Aktivitäten vorausgehen, was ebenso rätselhaft ist wie die Tatsache, dass die elektrische Stimulation von Hirnregionen zu Bewegungen führt, von denen der Ausführende auf Nachfrage angibt, sie „gewollt“ zu haben.
Allem, was im Bewusstsein erscheint, Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Impulsen, gehen beobachtbare und messbare Hirntätigkeiten voraus, die zum größten Teil unbewusst bleiben, wobei dem limbischen System besondere Bedeutung zukommt. Gehirntätigkeit vollzieht sich durch zum Teil selbstreferentielle biochemische und elektrische Prozesse in einem komplexen Netzwerk von Gehirnzellen, dessen Entwicklung von genetischen Bedingungen und Umwelteinflüssen abhängt, die bereits vorgeburtlich wirksam werden. Ein Mehr oder Weniger an Gehirnzellen und synaptischen Verbindungen, an Hormonen und Neurotransmittern, eine zeitliche Verzögerung bei synaptischen Überbrückungen, elektrischen Impulsen oder der Ausschüttung und Entsorgung biochemischer Substanzen entscheidet über Bewusstseinsinhalte, Stimmungen, Impulse, Wille, Empathie und Selbststeuerung, wobei Genetik und Prägungen von Generation zu Generation weitergegeben werden, worin die neurowissenschaftliche Fundierung der christlichen Lehre von der „Erbsünde“ gesehen werden kann. Roth warnt allerdings vor einem neurowissenschaftlichen Reduktionismus, demnach alle phänomenologisch beschreibbaren Inhalte des Bewusstseins „nichts als Epiphänomene“ naturwissenschaftlich beschreibbarer und erklärbarer Vorgänge sind. Vielmehr versteht er sich als Brückenbauer zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften und steht – wie vor ihm C.G. Jung, der mit seiner Lehre von den erlebnis- und entwicklungsprägenden Archetypen bereits an der Schnittstelle von Natur und Geist oder Seele geforscht hat – der kantischen Erkenntnistheorie nah. „Welt“ ist demnach ein Konstrukt des Gehirns und kann „an sich“ nicht erkannt werden.
Phänomenologisch schließt er dabei – wie Thomas Metzinger und Ulrich Ott – spirituelle Erfahrungen in Mediation und Yoga, Nahtoderfahrungen, luzide Träume und außerkörperliche Erlebnisse ein. Mit der herausgehobenen Stellung des Menschen im Kosmos ist es allerdings endgültig vorbei. Bewusstsein kommt nicht nur dem Menschen zu, der sich in einer evolutionären Reihe von Lebewesen findet und dessen nächster Verwandte die Schimpansen sind. Unzweifelhaft gibt es eine biologische Einheit der Natur, wie es eine „Parallelität geistiger und neuronaler“ Prozesse gibt. Sowenig es aber bislang gelungen ist, Leben zu erzeugen, auch, wenn die Bausteine des Lebens erforscht und bekannt sind, sowenig ist es bislang möglich, Bewusstsein und Seelenleben zu erzeugen. Künstliche Intelligenz vermag mit komplexen Algorithmen bereits vieles und neurowissenschaftliches Wissen lässt Fortschritte an der Schnittstelle Mensch – Maschine erwarten. Bewusstsein und Leben aber bleiben bislang unerreicht.
Dass und wie Roth Positionen namhafter Vertreter der Philosophie und Psychologie von der Antike bis zur Gegenwart mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert, ist gleichwohl vorbildlich und nahezu beispiellos. Freimütig und redlich räumt er ein, dass auch die „Welt der Neurowissenschaft“ eine Konstruktion des Geistes ist, was bedeutet, dass es letztlich unmöglich ist, die „Welt an sich“ zu erkennen und wir es immer nur mit Bildern und vorläufigen Erkenntnissen zu tun haben. Wir kommen aus dem erkenntnistheoretischen Zirkel nicht raus. Das Bewusstsein kann seine Voraussetzungen und Bedingtheit nicht selbst erkennen. Husserl hielt es gleichwohl für möglich, dass es Bewusstsein unabhängig vom Gehirn gibt – eine Hypothese, die u.a. in der Nahtodforschung Resonanz gefunden hat. Heidegger begriff Metaphysik in ihrer „Vorläufigkeit“ als „Technik“, Weg der Individuation oder Menschwerdung. Die Vorläufigkeit des Denkens holt das „Jenseits“ der Erfahrung immer wieder in die Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Endlichkeit des „Diesseits“ zurück, integriert Inhalte, macht Denk-Erfahrung zur verwirklichten Erfahrung. Der Mensch kann sich zwar „über sich hinaus“ bilden und entwickeln, das, was ihn dabei bedingt, aber nicht erkennen. In dieser unhintergehbaren, unerkennbaren Abhängigkeit kann man durchaus die biologisch-neurowissenschaftliche Formulierung dessen erkennen, was die traditionelle Metaphysik seit Jahrtausenden „Gott“ nennt. Carl Friedrich von Weizäcker und Gopi Krishna waren von den biologischen Wurzeln des Kundalini-Prozesses überzeugt. Der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch war von der Existenz eines „religiösen Apriori“ überzeugt, das auch biologisch verstanden werden kann und die „Gültigkeit religiöser Erfahrung“ verbürgen soll.
Roths Fazit bleibt – und dies lässt sich an zahlreichen sprachlichen Formulierungen durch das ganze Buch verfolgen, die im Hinblick auf neuronale Prozesse zwischen „verursachen“, „begleiten“ und „wechselwirken“ oszillieren – trotz allem Erkenntnisoptimismus philosophisch letztlich unentschieden: „Traditionellerweise werden Geist und Gehirn als ‚wesensverschieden‘ angesehen. Dem steht jedoch entgegen, dass spezifische neuronale Prozesse jedem geistigen Zustand vorausgehen, ihn hervorbringen und ihn dann begleiten (…) Es wird vermutet, dass eine dynamische Kombination lokaler Muster elektromagnetischer Wellen das Substrat von Bewusstsein ist (…) Wir müssen Geist und Bewusstsein als einen physikalischen Zustand ansehen, denn sonst könnten sie nicht mit den physikalischen Zuständen des Gehirns wechselwirken, was sie eindeutig tun. Die physikalischen ‚Bausteine‘ des Geistes sind bisher unbekannt (…) Das Gehirn konstruiert eine virtuelle Realität – die Wirklichkeit (…) Der Mensch kann die Grenzen dieser Erlebniswelt nicht überschreiten, und alle wissenschaftlichen Untersuchungen, diejenigen der Neurowissenschaften eingeschlossen, unterliegen diesen Erkenntnisgrenzen.“ (S.339f.). Es gibt Widersprüche, die unaufhebbar und unhintergehbar sind. Der vom Gehirn gemachte Unterschied zwischen Materiellem und Geistigem, Natur und Geist, gehört dazu. Der Fortschritt der Naturwissenschaften hebt die Widersprüche nicht auf, sondern führt tiefer ins Unergründliche und Rätselhafte und lässt uns angesichts der großen und letzten Fragen staunend, irritiert, doch ohne letztgültige Antworten zurück.
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Gerhard Roth: Über den Menschen. Suhrkamp, 2021