Es ist eine wilde Zeit, in der wir leben. Es scheint gerade so, als würde alles, was uns vertraut ist, auseinanderfallen: Werte, Beziehungen, Vorstellungen und Ansichten. Nichts von dem, was uns lange Halt geschenkt hat, hat noch den Wert, den es vor 2 Jahren hatte. Aber eines bleibt immer unveränderlich: unser eigener Wesenskern: unverletzlich, unsterblich, rein.
Das Menschsein und die Fragilität
Unser Menschsein zeichnet sich durch eine gewisse Fragilität aus.Wir werden konfrontiert mit Verlust, Krankheit und Tod. Und wenn wir etwas verlieren, was uns lieb ist, verlieren wir auch leicht den Boden unter den Füßen. Anstatt solche Erfahrungen als Teil des Menschseins zu erkennen, beziehen wir alles auf uns selbst:
Wir haben das Gefühl, zu versagen, schlecht zu sein oder Glück nicht verdient zu haben. Wenn wir krank werden, Ängste oder andere schwierige Gefühle uns überfluten, haben wir das Gefühl, dass mit uns etwas nicht stimmt. Wenn wir unsere Arbeit oder unser Geld verlieren, fangen wir an, an uns zu zweifeln, suchen den Fehler bei uns. Wir glauben, grundsätzliche Mängel zu haben. Wir halten uns für fehlbar, für falsch. |
Besonders in so umwälzenden Zeiten wie der jetzigen verlieren wir dabei eines aus den Augen: Wir vergessen unsere wahre Essenz. Wir vergessen unser ursprüngliches Gutsein. Der US-amerikanische Journalist Walt Whitman, der für seine tiefgründige Poesie bekannt ist, beschreibt es mit folgenden Worten: „Ich bin größer und besser, als ich dachte. Ich glaubte nicht, so viel Gutsein in mir zu beherbergen.“ Whitman hatte das Glück, eine Erfahrung seines Gutseins zu machen.
Frei sein – unsere Buddha-Natur
Im Buddhismus wird dieses Gutsein als unsere Buddha-Natur bezeichnet. Es ist jener Teil in uns, der frei ist von Anklage, frei ist von Schmerz, frei ist von Schuld, frei ist von allem. Was für ein großes Geschenk dieser Teil doch ist. Besonders in der heutigen Zeit bin ich so dankbar um ihn. Und ich versuche, die Verbindung mit ihm nicht zu verlieren. Trotz der ver-rückten Umstände. Das Besondere an ihm:
Dieser Teil ist nicht manipulierbar. Er ist nicht bestechlich. Er ist nicht verletzlich. Er ist, was er ist: rein, klar, unsterblich.
Wenn wir diesen Teil in uns erfahren, sind wir frei. Wenn wir diesen Aspekt in uns berühren, spüren wir, dass nichts und niemand uns verletzen kann. Niemand kann uns Kummer oder Schmerz zufügen, wenn wir von diesem Ort aus leben.
Weises aus der Bhagavad Gita
Zurzeit lese ich die Bhagavad Gita von Jack Hawley. In ihr heißt es: „Ob dein Schmerz und Kummer enden werden, hängt davon ab, wie gut du deine Unwissenheit über dein wahres inneres Selbst überwindest.“ Wenn wir also das Wissen erlangen, dass wir diesen Kern in uns tragen, überwinden wir Leid und Schmerz. Wenn wir uns mit diesem Teil in uns verbinden und aus ihm heraus leben, brauchen wir keine Angst zu haben. Dann sind wir innerlich frei. Egal, was im Außen passiert. Egal, wer uns im Außen beschränkt.
Wie aber kommen wir mit diesem Teil in uns in Kontakt?
Auch hierzu finde ich in der Bhagavad Gita schöne Passagen. Besonders berührt hat mich hier folgender Passus von Ralph Skuban. Er beschreibt die Geschichte hinter der Bhagavad Gita, einem Erbfolgekrieg:
Eine Familie wird übers Ohr gehauen und aus ihrem Reich vertrieben. „Bei einer ihrer Wanderungen haben sie einmal großen Durst. Nakula, der jüngste der Pandubrüder, findet einen kristallklaren See. Als er sich über ihn beugt, um vom köstlichen Nass zu trinken, sagt eine Stimme zu ihm: „Halt, mein Kind! Zuerst beantworte mir Fragen, dann darfst du trinken.“ Doch Nakulas Durst ist zu groß und er hört nicht auf die Stimme. So trinkt er aus dem See und fällt tot um. Nacheinander kommen seine Brüder Sahadeva, Bhima und Arjuna ans Seeufer und allen ergeht es wie Nakula: Als sie vom klaren Wasser trinken, sterben sie. Zuletzt ist Yudisthtira an der Reihe. Er sieht seine toten Brüder und bricht vom Schmerz überwältigt in Tränen aus. Eine Stimme hinter ihm sagt: „Mein Kind! Zuerst beantworte meine Fragen, dann werde ich deinen Durst stillen und deinen Schmerz heilen.“ Yudishtira wendet sich um und sieht einen Kranich. „Welche Straße führt ins Himmelreich?“, fragt der Kranich. „Die Wahrhaftigkeit“, antwortet Yudishtira. „Wie findet man zum Glück?“. „Indem man richtig lebt.“ „Was muss man lernen zu kontrollieren, um den Schmerz zu vermeiden?“ „Den Geist.“ „Welcher Mensch wird geliebt?“ „Wer ohne Eitelkeit ist.“ „Was ist das wundersamste von allen Dingen in der Welt?“ „Dass kein Mensch denkt, er selbst könnte sterben, obgleich er doch alle Menschen um sich herum sterben sieht.“ Wie erreicht man wirkliche Religion?“ „Nicht durch Diskussionen, nicht durch Schriften, nicht durch Regeln und Doktrinen. Nichts davon kann uns helfen. Den Pfad der Religionen gehen die Heiligen.“ Der Kranich ist zufrieden und offenbart sich Yudishtira als Dharma, die Personifikation des Weges und der Wahrheit. Dann holt er Yudishtiras Brüder ins Leben zurück. |
Loslassen
Es klingt so paradox, aber um Zugang zu dem zu gewinnen, was uns im tiefsten Innern erfüllt, müssen wir uns von dem lösen, was uns im Außen festhält. Solange wir unser Augenmerk darauf richten, dass wir nur dann zufrieden sind, wenn wir eine glückliche Liebesbeziehung führen, einen passenden Job haben, eine schöne Wohnung besitzen oder eine Yoga-Asana perfekt ausführen können, werden wir unseren inneren Kern nicht erfahren. Lassen wir aber von all dem und vor allem von unseren Vorstellungen los, wie das Leben sein sollte, dann werden wir frei.
Puh, gar nicht so leicht, oder?!
Das ist es tatsächlich nicht. Und trotzdem möchte ich dir Mut machen: Wenn dein tiefster Wunsch, der ist, mit deiner unsterblichen Quelle, mit deinem Gutsein, in Kontakt zu kommen, dann wirst du diese Erfahrung machen. Wenn du den Weg der Wahrhaftigkeit gehst, wirst du früher oder später zwangsläufig auf deinen eigenen inneren Kern stoßen. Wenn du deine Eitelkeit hinter dir lässt, wirst du ebenfalls erfahren, wer oder was du in dir trägst.
Und ehrlich gesagt: ist es nicht gerade diese wilde Zeit, die uns wie nie zuvor auffordert, auf die Suche zu gehen, nach unserer eigenen Wahrheit? Unserer eigenen Quelle? Ich empfinde es so. Wenn nicht jetzt, wann dann? Und wenn nicht du und ich, wer dann?
Zum Weiterlesen:
Doris Iding. Erleuchtet in drei Atemzügen. Mit Achtsamkeit und Meditation im Jetzt ankommen. Irisiana Verlag. 2021
Jack Hawley. Bhagavadgita. Der Gesang Gottes. Arkana Goldmann Verlag 2002
Ralph Skuban. Die Bhagavad Gita. Das Weisheitsbuch fürs 21. Jahrhundert. DTV, 3. Auflage 2013