Überall sehe ich nur noch Krieg, Hetze und Unruhen. Lass uns ein Vorbild sein, lass uns Ahimsa praktizieren. Gewaltlosigkeit. Wenn nicht wir, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?
Das Yogasutra und das meinende, denkende Selbst
Gestern stolperte ich über ein Statement, dass Sriram, ein international anerkannter Yogalehrer in einem Vortrag über das Yogasutra des Patanjali gesagt hat: „Nicht im Besiegen von Feinden oder in der aktiven Gestaltung dessen, was uns umgibt, liegt eine sehr weitgehende und sehr tiefe Lösung des Problems, wie das menschliche Leiden verringert werden kann, sondern in dem, was wir mit unserem Geist tun. Diese Feststellung ist der Ausgangspunkt des Sutras. Es geht darum, das meinende, denkende Selbst zu erforschen und zu verstehen. Das Sutra inspiriert uns, ihm auf die Schliche zu kommen, um einen klaren Weg aus Schwierigkeiten zu finden.“
Nie zuvor hat mich dieser Satz so tief berührt wie gestern. Dabei habe ich ihn schon häufig gelesen. Aber nie zuvor habe ich so viel Hetze, verbale Gewalt, Krieg und Spaltung erlebt wie in den letzten 2 Jahren.
Ein zeitloser Leitfaden zum inneren Frieden
Wie schön, dass Aussagen wie die von Sriram zeitlos sind. Und auch das Sutra, auf das er sich bezieht. Unter einem Sutra versteht man einen Leitfaden. Das Yogasutra des Patanjali, auf das Sriram sich bezieht, ist ein wichtiger Leitfaden auf dem Weg zum inneren Frieden. Wenn wir es jetzt mit dem Herzen lesen und es im wahrsten Sinne des Wortes beherzigen, können wir maßgeblich zum Frieden beitragen.
Das Sutra des Patanjali findet noch heute Anwendung
Das Sutra des Patanjali wurde im Verlauf der letzten Jahrhunderte immer wieder neu von Yogalehrern wie Sri T. Krishnamacharya, Sri T. K. V. Desikachar1 oder R. Sriram2 übersetzt. Dadurch ist es auf unsere Zeit und auf die aus ihr hervorgehenden Fragen, Belange und Nöte anwendbar. Das heißt, dass es uns auch heute helfen kann, aus einer so kriegerischen Stimmung herauszufinden.
Ist unser Geist das Problem?
Wie sich in den letzten Jahren deutlich gezeigt hat, hat sich unser Geist in den letzten 70 Jahren nicht wesentlich verändert. Obwohl wir noch nie so viel Zugang zu heiligen Schriften hatten, reagieren wir genauso aggressiv wie vor 100 oder 500 Jahren. Und obwohl wir mittlerweile wissen, wie wir unseren Geist beruhigen könnten, lassen wir uns noch genauso schnell triggern.
Mit frischem Blick auf den Geist
Deshalb ist doch heute ein guter Tag, um es einmal anders zu machen. Lass uns mit einem frischen Blick auf unseren Geist schauen und die Möglichkeit nutzen, so mit ihm umzugehen, dass wir ihn beherrschen, anstatt dass er uns im Griff hat. Lernen wir die Struktur unseres Geistes kennen, dann werden wir frei und können auch in Freiheit mit anderen Menschen zusammenleben. Dann werden wir auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit, des Mitgefühls und der Achtsamkeit unmittelbar in unserem eigenen Umfeld umsetzen können.
Das Wissen vom menschlichen Wesen
Ich weiß, dass ich die Dinge nicht so sehe, wie sie sind – ich sehe die Dinge so, wie ich bin.
Laurel Lee
Erziehe deinen eigenen Geist
Dem Yogasutra zufolge besitzt jeder Mensch die Fähigkeit, den eigenen Geist zu erziehen. Wir können also dahin kommen, dass wir eine klare Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln. Aber leider stellt sich uns gleichzeitig immer wieder etwas in den Weg, was uns daran hindert, dass wir die Dinge so sehen, wie sie sind. Normalerweise hat unser Geist eine Vielzahl von Konzepten und Vorstellungen von anderen Menschen, von uns selbst und von der Welt entwickelt, wodurch es uns nicht mehr möglich erscheint, etwas wirklich aus der Tiefe heraus zu verstehen. Genau dieses Nichtverstehen ist es, was im Zusammenleben mit anderen Menschen zu großen, oftmals unüberwindbar scheinenden Schwierigkeiten führt.
Deine Meinung ist nur eine Meinung
Besonders auffallend ist, dass es in den letzten Jahren zu einer so starken Spaltung der Meinungen gekommen ist, dass uns die Toleranz verloren gegangen ist. Das Yogasutra fordert uns deshalb auf, dass wir unsere eigene Meinung nur als eine Meinung betrachten. Sie ist nicht die Wahrheit. Der Glaube, dass meine Meinung die richtige Meinung ist, kann unsere Wahrnehmung und unser Verhalten immer wieder in eine Richtung drängen, aus der Leid und Unzufriedenheit entstehen. Durch diese Hindernisse können bestimmte Dinge, von denen wir glauben, dass sie unser Glück, unsere Gesundheit und unsere Freiheit ausmachen, eine radikale Haltung nach sich ziehen, die anderen Menschen wiederum die eigene Gesundheit und Freiheit raubt. Wenn wir so davon überzeugt sind, dass nur wir recht haben und die Meinung der anderen dabei übersehen, kann dies zu einem Krieg im Kleinen und auch im Großen führen.
Wir glauben normalerweise, dass unsere Wahrnehmungen richtig sind und verlassen uns auf sie. Der Buddha aber hat erkannt, dass das ein Irrtum ist und die meisten unserer Wahrnehmungen falsch sind. Wir müssen es uns angewöhnen, uns stets zu fragen, ob wir unseren Wahrnehmungen wirklich trauen können.
Thich Nhat Hanh
Größe zeigen und das Herz öffnen
Ich glaube, wir dürfen niemals vergessen, dass wir die Dinge immer nur durch unsere eigene Brille gefärbt von unserer eigenen Wahrnehmung betrachten. Mir fällt in letzter Zeit auch immer wieder ein, wie lange wir als Menschheit daran geglaubt haben, dass die Erde eine Scheibe ist. Wie viele Menschen, die behauptet haben, dass die Erde eine Kugel ist, haben ihr Leben lassen müssen! Bei diesem Beispiel denke ich mir, dass wir gut daran täten, unsere eigene Wahrnehmung nicht als eine totale Wahrheit zu betrachten, sondern nur als einen Gedanken. Und dass wir uns möglicherweise täuschen können…
Ein solcher Gedanke, dass wir uns in unserer Wahrnehmung täuschen könnten, verlangt viel Größe. Aber wäre es nicht wunderbar, wenn wir als Beispiel vorangehen würden und diese Größe zeigen könnten?
Unsere Sicht ist nur eine Sichtweise von vielen
Auf der einen Seite ist es wichtig, dass wir eine eigene Meinung und einen eigenen Standpunkt haben. Aber andererseits sollten wir immer im Hinterkopf behalten, dass unsere Sicht nur eine Sichtweise von Tausenden ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir in einem Gespräch über Viren und Kriege, über Glück und Unglück, Haben und Sein lernen, uns von der eigenen Sichtweise etwas zu distanzieren und unserem Gegenüber mit einem Verständnis für seine eigene Sichtweise zu begegnen.
Mit mehr Offenheit zu mehr Verständnis
Diese Offenheit kann ein Schritt in Richtung mehr Verständnis und möglichem Frieden zwischen zwei Menschen, aber auch zwischen zwei Nationen bedeuten. Wenn wir anfangen, Frieden zu schließen mit all den Menschen, mit denen wir uns in den letzten Jahren zerstritten haben, dann werden wir das kollektive kosmische Feld des Friedens ungemein stärken. Denn wenn nicht wir Frieden schließen, wer dann? Wenn wir dies nicht heute tun, wann dann?
Wie wäre es also, wenn du gleich heute einen Menschen anrufst oder schreibst und ihm oder ihr die Hand reichst? Wäre das nicht wunderschön? Wäre das nicht gelebter Yoga?! Lass uns zum Boten des Friedens werden.
1 siehe hierzu: Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali. T.K.V. Desikachar, Verlag Via Nova
2 Siehe hierzu: Patanjali. Das Yogasutra. R. Sriram. Theseus Verlag