Er trinkt, liebt Sex, raucht Haschisch, liest, hat zwanzig Jahre Psychoanalyse hinter sich, meditiert, macht Yoga, Pranayama, Tai-Chi und Karate. Vor allem aber: Er schreibt, leidenschaftlich und radikal, möglichst aufrichtig und immer über sich selbst, sein Leben.
Mit achtundfünfzig Jahren blickt der erfolgreiche Autor, Ehemann und Vater zweier Kinder glücklich, selbstbewusst und mit Gelassenheit auf zehn Jahre erfolgreichen Lebens und Arbeitens zurück und beschließt, seine Kenntnisse und Erfahrungen mit dem Leben, den östlichen Techniken und Weisheiten in einem heiteren, feinsinnigen Büchlein über Yoga zusammenzufassen und weiterzugeben. Zur Vorbereitung von „Ausatmen“ – so der Arbeitstitel – liest er morgens in einem Café Pantanjalis Yogasutra. Dessen Fragestellung, ob und wie es möglich sei, einen Ausweg aus dem Erdendasein, dem Samsara, zu finden, sich von allen Bedingtheiten zu befreien, sich radikal zu dekonditionieren und Nirvana zu erreichen, worin Pantanjali den Sinn des Lebens oder vieler Leben sieht, erachtet er für sich allerdings als zu anspruchsvoll. Anstelle des Hochgebirges bevorzugt er „Berge mit Kühen“, gemäßigte und weniger lebensgefährliche Regionen und Wege. Pantanjalis Methode, durch Beobachtung Denken und Begehren zum Stillstand zu bringen, auf Urteile zu verzichten und die Dinge zu sehen und anzunehmen, wie sie sind, fasziniert und überzeugt ihn allerdings, und Carrère, der sich seines Wissens, seines Könnens und Seins sehr sicher ist, beschließt, sich vor Beginn des Schreibens einem zehntägigen Vipassana-Kurs zu unterziehen und schweigend, ohne Bücher, ohne elektronische Medien, ohne Ablenkung an zehn Tagen täglich zehn Stunden meditieren. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er nicht einmal, dass sein Leben bald vollkommen abdriften wird, und dass sich sein Selbstbild, sein Glück und die für unumstößlich erachtete Sicherheit seines Lebens vollständig auflösen werden. Dem Leser bietet er bis dahin mehrere Definitionen von „Yoga“ und zehn Definitionen von „Meditation“ an, erzählt von inneren Erfahrungen, Begegnungen, beeindruckenden Menschen und gibt zahlreiche Weisheiten wieder, deren Essenz die Einheit der Gegensätze ist, die auseinander hervor- und unaufhörlich ineinander übergehen. Was davon wird ihn beim Absturz tragen, ihm helfen, das verlorene Gleichgewicht wiederzugewinnen?
Die Nachricht von der Ermordung eines Bekannten in den Räumen von Charlie Hebdo beendet das Vipassana-Retreat vorzeitig. Wenig später nimmt er ein weiteres Mal an dem Seminar teil und lässt sich auf dem Rückweg auf eine erotische Beziehung mit einer Teilnehmerin ein, ohne dass beide mehr voneinander wissen als den Vornamen. Es folgen immer wieder rauschhafte intime Höhenflüge im Hotel. Carrère hält sich für gefestigt und geerdet genug, um die Verdoppelung seiner Identität gefahrlos zu meistern. Und als die geheimnisvoll lebendige Zwillings-Frau ihm mitteilt, mit ihrer Familie auf die andere Seite der Weltkugel zu ziehen, glaubt er daran, dass ihre Treffen, wenn auch mit größerem zeitlichem Abstand, weitergehen werden, bis sie eines Tages sterben wird. Aber es kommt anders. Was genau die radikale Krise, den Zusammenbruch und den Sturz in eine bipolare Störung des Typs II auslöst, kann Carrère, für den Literatur der Ort ist, wo man nicht lügt, nicht erzählen. Sich selbst kann und darf er schonungslos zeigen, andere nur bedingt. Und bei der Trennung von seiner Frau musste er sich juristisch verpflichten, sie aus seinen Büchern künftig herauszuhalten. Aus Ausatmen wird ein neues, autobiografisch-psychiatrisches Projekt. Solange er sich erzählen kann, ist er nicht völlig verloren, glaubt er. Doch auch das Schreiben entzieht sich ihm. Carrère liest seine Bücher im Licht der klinischen Diagnose und findet das große Gesetz der Wandlung in ihnen wieder. Er erzählt von seiner Begegnung mit einem Lacan-Schüler, seiner stationären Aufnahme in die Psychiatrie, der Behandlung mit Ketamin, seinen unermesslichen seelischen Qualen, dem Wunsch zu sterben und dem anschließenden Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung. Er ist räumlich und zeitlich desorientiert, leidet an Derealisation und Depersonalisation, woran er sich glücklicherweise nicht mehr erinnert, als er auf die offene Station zurückkehrt. Doch bleibt er selbstmordgefährdet und wird unter Vollnarkose wiederholt mit Elektroschocks behandelt. Carrère stürzt in die Hölle, in der es kein Licht, keine Zukunft, keine Hoffnung mehr gibt und einzig der Tod Erlösung bringen kann. Merkfähigkeit und Gedächtnis lassen nach. Er lernt Gedichte auswendig, wird medikamentös eingestellt, gilt als funktionstüchtig, wird entlassen und reist zu einer Reportage erst in den Irak, dann auf die Insel Patmos. Doch die Angst, dass der Wahnsinn wiederkehrt, reist mit.
Es sind die Tage der beginnenden Flüchtlingskrise. Auf der Insel Laros bringt er sich in einem Flüchtlingslager in eine Schreibwerkstatt mit jungen Flüchtlingen ein. Er erfährt Dramatisches über Fluchtwege, entwickelt seit langem wieder wirkliches Interesse an anderen Menschen, übt mit den Flüchtlingen Tai-Chi und Atemmeditation und beginnt endlich wieder, viel und erholsam zu schlafen. Zusammenfassend wiederholt Carrère schließlich vierundzwanzig Definitionen von „Meditation“, alle aus erster Hand, bis auf eine, die er von Krishnamurti übernommen hat: „Meditation heißt, sich allezeit allem bewusst zu sein“. Drei Jahre später geht es ihm endlich wieder besser. Er lernt das Zehnfingerschreiben, sichtet das Material seines ursprünglich geplanten Yogabuches, fügt ein, was sich zwischenzeitlich an Unvorhergesehenem und Schrecklichem ereignet hat, und schließt sechs Monate später Yoga ab. Ganz zum Schluss kehrt auf einem Bergpfad auf Mallorca auch die Freude wieder, das Leben und die Liebe. Und Carrère, auch wenn er weiß, dass das Leben nicht nur gut ist, lässt sich von neuem ein und ist einfach nur glücklich zu leben.
Weiterlesen:
Emmanuel Carrère:Yoga
aus dem Französischen von Claudia Hamm
Matthes & Seitz 2022, EUR 25