„Der Guru ist sprichwörtlich sowohl der Lehrer als auch der Schüler als unteilbares Ganzes. Der eine bringt den anderen hervor. Genauso wie der Lehrer den Schüler hervorbringt, so bringt der Schüler den Lehrer hervor – beide unterstützen sich gegenseitig im Geist der höchsten Wahrheit. Dieses Geben und Empfangen ist die größte verborgene Lehre… “
– Igor Kufayev
Manche der leuchtendsten Geschenke in unserem Leben erreichen uns völlig unerwartet. Sie werden ans Ufer unseres Herzens geschwemmt als Antwort auf eine Sehnsucht, die uns nicht einmal bewusst war. Diese seltenen Geschenke tragen ein Licht in sich, welches unbekanntes Terrain in unserem Wesen erhellt. Und oft dämmert uns erst viel später, dass die Schönheit dieser Gabe ihre geheimnisvolle Art ist, etwas in uns zum Leben zu erwecken.
Ich begegnete Igor Vamadeva Kufayev, einem Advaita-Tantra-Lehrer aus Usbekistan, zum ersten Mal im Juni 2015 in Holland. Diese Begegnung markierte einen kompletten Wendepunkt in meinem Leben. Alles, was ich vorher erlebt hatte, war Vorbereitung auf diesen einen wegweisenden Moment, in dem ich auf meinen letztendlichen spirituellen Lehrer traf. Mir wurde eines dieser seltenen Geschenke aus der Tiefe des Herzens geschenkt, welches mein Leben, wie ich es kannte, völlig transformierte. Ein Freund hatte mir die Empfehlung gegeben, an einem der Retreats des Lehrers teilzunehmen. Seinen Worten zufolge war Igor Vamadeva „The Real Deal” – ein Meister im Zustand der Einheit, der mir helfen könnte, mich durch den Prozess des Erwachens zu begleiten, in dem ich mich befand.
Nur ein paar Tage, nachdem ich Vamadevas Namen zum ersten Mal gehört hatte, befand ich mich im Zug auf meiner Reise nach Norden, um in seiner Gegenwart zu sein. Ich sann über einen merkwürdigen Traum nach, den ich in der Nacht zuvor gehabt hatte: Ich träumte, ich wäre formlose Präsenz. In dieser reinen Gegenwärtigkeit befanden sich zwei Augen, die Wahrnehmung erst möglich machten. Intuitiv wusste ich, dass diese Augen Shivas Augen waren. Sie gehörten jedoch gleichzeitig einer riesigen Kobra, und waren die Augen von Vamadeva und von mir selbst. Das strahlende Licht, das durch sie schien, hielt die gesamte Existenz in tiefster Stille und Glückseligkeit. Während die Landschaft draußen vorbeirauschte, schrieb ich diesen Traum in mein Notizbuch. Doch erst viel später wurde mir klar, dass mir eine Einsicht in das geschenkt worden war, was kommen würde. Der Traum war eine Vision von Einheit – ich hatte einen Blick erhascht, wohin mich mein Lehrer führen würde.
Ich kam gerade noch rechtzeitig in dem holländischen Kloster an, in dem die Immersion „Vibrant Self“ stattfand, und huschte als letzte Person in den Darshan-Raum auf ein freies Meditationskissen. Wir waren eine kleine Gruppe aus ganz Europa, die sich gefunden hatte, um in der Gegenwart des Lehrers zu sein, um tiefere Aspekte des Kaschmirischen Shivaismus zu erforschen und Anleitung in der Meditationspraxis zu erhalten. In Vamadevas Gegenwart zu sitzen, fühlte sich wie „nach Hause kommen” an. Ich war unmittelbar berührt von seinem Humor, seiner Direktheit und kraftvollen Energie. Mich faszinierten seine Brillanz und Gabe, tiefe spirituelle Weisheit durch Worte zum Leben zu erwecken. Doch spürte ich auch einen Strom von vibrierender Stille von ihm ausgehen, der mich noch stärker zu berühren schien als das gesprochene Wort. Etwas tief in meinem Inneren verneigte sich in Ehrfurcht und Staunen. Jenseits von Gedanken fand ein intuitives Erkennen in meinem Herzen statt: Ich wusste, dass ich mich in der Gegenwart meines Gurus befand – dem Spiegel meines eigenen Selbst. Dieser Moment war Seligkeit und energetischer Schock. Die Erfahrung war so überwältigend, dass ich eine Welle subtiler Angst spürte. Ich begann zu ahnen, dass mein Weg zu Ende war, ohne greifen zu können, was das nun bedeutete. Ich spürte mit aller Gewissheit, dass karmische Fäden wieder aufgegriffen wurden und dass Vamadeva mich zur Vollendung meiner Sadhana führen würde.
Während dieser ersten Begegnung initiierte mein Lehrer mich in den Weg der spontanen Verwirklichung unserer göttlichen Essenz – den Weg der Siddhas, der uns zur innewohnenden Vollkommenheit unseres Wesens führt. Den Weg des Herzens. Es ist der Weg, der immer schon da war – der sich jenseits von Tradition und inmitten aller Traditionen durch alle Epochen webt, wie der verborgene Nektar in der Knospe einer Blume. Das Portal zu diesem Weg öffnete sich für mich mit der Übertragung von spiritueller Energie, der Berührung von Gnade. Mit der Initiation in den Weg des Herzens begann das Bewusstsein, welches mein Lehrer verkörpert, in der Tiefe meines Wesens zu vibrieren. Dieses lebendige Licht war so kraftvoll, dass es zu verzehren begann, wofür ich mich bisher gehalten hatte. Es reinigte mich allmählich von der Illusion der Dualität, von den Fesseln der Endlichkeit, führte mich in den Ozean des Herzens und bereitete mich darauf vor, mit einer klaren und frischen Vision der Allgegenwart von Shiva in die endliche Welt zurückzukehren.
Mein Lehrer hielt für mich das große Paradoxon von menschlich und göttlich, von persönlich und überpersönlich, von einzigartig und universell, was meinen Geist erschütterte und nur vereinigt werden konnte, indem ich selbst in der Weite des Seins aufging. Die Beziehung zu ihm entfaltete sich in der Tiefe des Herzens als Flüstern, als Sturm, als subtile Berührung, als die Melodie der Stille. Keine Worte können diese Dimension jemals berühren. Sie bleibt dem menschlichen Verstand, und somit jeglichem konzeptuellen Verständnis oder kritischer Analyse, verborgen. In dieser Begegnung endete mein Weg. Mein Lehrer selbst war nun mein Weg, und alle Spuren von Richtung, Fortschritt, Evolution lösten sich auf.
Am zweiten Tag dieses Retreats erhielt ich von Vamadeva während einer Meditations-Session Shaktipat. In den tantrischen Schriften steht geschrieben, dass es unterschiedliche Möglichkeiten des Übertragens von spiritueller Energie gibt. Dies kann durch einen Blick des Meisters geschehen, durch Berührung, durch Intention, durch ein Wort oder Mantra, oder durch Stille. Um seinen Schülern während der Meditation energetisch zu assistieren, verwendet mein Lehrer einen grauen Kaschmir-Schal, der schon sehr lange in seinem Besitz ist und in dem die Energie seines eigenen spirituellen Meisters Maharishi Mahesh Yogi und dessen Guru Swami Brahmananda Saraswati gegenwärtig ist. Er sagte mir einst, dass er erst mit seinen Schülern zu arbeiten beginnt, nachdem er seine eigenen Meister angerufen hat und die Erlaubnis verspürt, diese Arbeit zu tun. Dieser Satz berührte mich zutiefst und beinhaltet für mich die große, unaussprechliche Schönheit der Lehrer-Schüler-Beziehung.
Ich saß in tiefer Meditation, als ich plötzlich den Druck von Vamadevas Hand auf meinem Kopf spürte. Ein heller Lichtblitz schien mein gesamtes Wesen zu spalten. Gleißendes Licht war überall. Ich wurde gebadet in einem Licht, das heller war als Millionen von leuchtend strahlenden Sonnen. Ich konnte nicht sagen, wo es herkam. Es war so stark, dass es völlig auslöschte, wofür ich mich gehalten hatte, und meine vorherige Wahrnehmung von Realität verblassen ließ. Dieses Licht erleuchtete die Tiefen meines Bewusstseins und schwemmte an die Oberfläche, was sich wie ganze Leben von gehaltenem Schmerz und Verzweiflung anfühlte. Ich wurde sprichwörtlich geleert von innerem Ballast durch vibrierende Ströme von absoluter Glückseligkeit. Eine unglaubliche Energie begann meinen Körper auszufüllen. Spontane Bewegungen, auch Kriyas genannt, brachten meinen Körper zum Zittern, zum Schütteln und manifestierten sich als unbeabsichtigter Pranayama und als Yogapositionen wie die Brücke, der Fisch, das Rad und weitere Haltungen, für die ich keinen Namen habe. Lachen schüttelte mich, während gleichzeitig Tränen über mein Gesicht liefen. Mein Herz fühlte sich an, als würde es zerbrechen, da dieses gewaltige Licht, welches mich von der Quelle des Universums zu fluten schien, nicht gehalten werden konnte. Ich war im Zustand von unbeschreiblicher Ekstase.
Im anschließenden Darshan thematisierte Vamadeva das Phänomen der spontanen Manifestationen in unserer Meditation. Er erklärte, dass sich Kriyas als ein Resultat der Aktivierung, des Erwachens und des Aufstiegs von Kundalini-Shakti manifestieren würden, die gewaltige Wellen von Energie durch den gesamten subtilen Körper sendet. Es war erhellend zu hören, dass ohne Kriyas kein wahres Erwachen möglich ist, da diese unfreiwilligen physischen, emotionalen und mentalen Bewegungen eine Reinigung unseres Systems von all der Information anzeigen, die unser Bewusstsein im Zustand der Kontraktion hält ‒ getrennt von der Wahrnehmung dessen, wer wir tatsächlich sind. Vamadeva ergänzte, dass diese spontanen Manifestationen jedoch in allen Phasen des transformativen Prozesses vorkommen, und die göttliche Kraft sich so durch uns und als wir ausdrückt. Mir wurde das erste Mal bewusst, welche Rolle unser Nervensystem für die Selbstverwirklichung spielt, und dass die Befreiung von tiefsitzendem Stress und Blockaden uns das große Wunder zu offenbaren vermag, Mensch und Gott gleichzeitig zu sein. Dieser Darshan hinterließ eine tiefe Wirkung.
Ich verabschiedete mich von Vamadeva nach dieser ersten Begegnung in tiefer Dankbarkeit und stiller Freude. Seine letzten Worte waren: „Du brauchst dir keinerlei Sorgen zu machen. Jetzt ist die Führung endlich da.” Auch als ich von der Immersion längst zurück war, befand ich mich in einem Zustand von anhaltender spontaner Absorption. Der Strom von Glückseligkeit schien meinen denkenden Geist auszulöschen, alles um mich herum schien überirdisch zu leuchten, und ich hatte Schwierigkeiten, meinen Alltagspflichten nachzugehen. Auf einen Rat von Vamadeva hin zog ich mich aus der Leitung unseres Yogastudios, das ich gemeinsam mit meinem Mann leitete, sowie dem Unterrichten von Yoga und Meditation zurück, um mich dieser spontanen inneren Entfaltung hinzugeben. Mein Lehrer meinte, dass ich dies nie bereuen würde, da ich in einem unaufhaltbaren Prozess sei, göttliches Bewusstsein durch und in diesem Körper zu gebären.
Es war eine sehr intensive Zeit. Kundalini-Shakti vollführte nun den yogischen Prozess durch meinen Körper in absoluter Spontaneität. Ich war permanent in Meditation. Tag und Nacht war ich im Strom der Gnade meines Gurus, gehalten in der elektrischen Kraft der Transformation. Kundalini als die Kraft des Bewusstseins verdeutlichte mir Aspekte meiner Persönlichkeit, die bisher immer im Dunkeln gewirkt hatten; sie brachte sämtliche Rollen sowie die psychologischen Tendenzen, die meine Persönlichkeit zusammenhielten, ins Licht des Bewusstseins, wo sie aufgelöst und neu integriert wurden. Die Person, für die ich mich gehalten hatte, begann auseinanderzufallen. Ich kam in Kontakt mit einer instinktiven Angst. Es war die Angst, von dieser gewaltigen Kraft des Lichts ausgelöscht zu werden. Die selbst-bewahrenden Anteile meiner Persönlichkeit versuchten, die Kontrolle zu behalten und einen Fluchtweg zu finden, doch alle Wege schienen verstellt. Mein Lehrer leistete großartige Arbeit. Ich musste damals an das Gedicht von Jalaluddin Rumi denken, das mich immer berührt hatte: „Und wenn Er alle Wege vor dir verschließt, wird Er einen verborgenen Pfad zeigen, den niemand kennt.“ Dieser Pfad enthüllte sich im Inneren, indem mir bewusst wurde, dass ich hinter all der mentalen Bewegung an der Oberfläche in Kontakt mit tiefer Hilflosigkeit war, die mich auf die Knie sinken ließ. Ich wusste nicht weiter. Es war ein sehr bedeutsamer Moment, denn erst jetzt war ich wirklich in der Lage, zu empfangen und aus ganzem Herzen zu sagen: „Bitte führe mich…”
Diese Bitte entfaltete ihre ganze Kraft, als ich wenig später in Sedona auf meiner dritten Immersion mit Vamadeva war. Nach wie vor spürte ich emotionalen Aufruhr, aber das Wichtigste war, dass ich dem Ruf gefolgt war, und mich wieder in der Gegenwart meines Lehrers befand, um meine Arbeit mit ihm fortzuführen.
Die Meditationen waren von Anfang an sehr tief, da die Gruppe sich aus vielen langjährigen amerikanischen Schülern von Vamadeva zusammensetzte. Spontane Vokalisierungen, tiefes Summen und Obertonsingen füllten den gesamten Raum. In einer dieser Sessions nahm ich die Präsenz meines Lehrers vor mir wahr, und mein Körper wurde sehr still. Es war, als würde pures Licht durch meinen Atem einströmen und direkt in mein Herz fließen. Mein Atem kam zum Stillstand. Ich saß in tiefer innerer Seligkeit wie eine indische Statue – mit beiden Händen vor mir in spontanen Mudras. Mein Bewusstsein dehnte sich über alle Grenzen hinweg aus. Ich sah das Universum in meinem eigenen Körper; ich sah Planeten, die sich im Rhythmus des ewigen Klanges meines eigenen Seins in meinen Armen bewegten. Die Geräusche im Raum waren an der Peripherie meiner Wahrnehmung wie Wellen am Ufer des unendlichen Ozeans von Bewusstsein. Von weit her vernahm ich die Anweisung unseres Lehrers, uns nach der Meditation in die Entspannung auf dem Boden zu begeben, aber ich konnte mich nicht bewegen. Es war keine Verbindung da zwischen Gedanken und der körperlichen Reaktion. Für lange Zeit saß ich in diesem vibrierenden Frieden, ohne zu atmen, bis eine energetische Welle durch den Körper ging, der daraufhin in den Boden zu schmelzen begann. Ich konnte weder meinen Kopf noch meinen Körper bewegen. Jemand rief Vamadeva, der sofort erkannte, was mit mir los war, und einige Punkte an meinem Kopf berührte. Er meinte – mehr um die umstehenden Leuten zu beruhigen – dass es keinerlei Anlass zur Sorge gäbe. Ich spürte keinerlei Angst.
Für zwei Tage war ich im Zustand von Einheitsbewusstsein, in dem mein Körper regungslos blieb. Mein Metabolismus verlangsamte sich derart, dass meine Beine und Arme eiskalt wurden. Es war wie ein Sterbeprozess. Meine Wahrnehmung meiner selbst begann sich in alle Richtungen auszudehnen, bis es in diesem Universum nichts gab, was ich nicht war. Ein vibrierender Summton füllte mein Wesen. Ich nahm wahr, wie gewaltige Ströme von Information durch mein Bewusstsein flossen. Ich sah all das, wofür ich mich gehalten hatte – unzählige angesammelte Gedanken und Überzeugungen – in der Unendlichkeit meines Geistes vorüberziehen. Ich beobachtete, wie die verdichtete Information dieses Lebens und vergangener Leben durch mein Bewusstsein floss. Ich sah die Welt, und was ich für die Welt gehalten hatte – und alles löste sich in diesem unendlichen Strom von Licht auf. Nichts davon hatte im Entferntesten mit meinem Selbst zu tun.
Unser Gastgeber in Sedona nahm mich in seinem Haus auf, in einem wunderschönen Raum, der zu einer Kapelle umfunktioniert worden war, da er selbst ein Priester war. Ich wurde von zwei meiner Sangha-Schwestern versorgt, die mir ab und zu etwas Wasser gaben. Am zweiten Tag dieses Zustands von Samadhi begann die Shakti wieder Leben in meinen Körper zu atmen. Starke Hitze dehnte sich nun vom Herzen in alle Gliedmaßen aus. Ich schwitzte und hatte körperliche Schmerzen. Alle Gliedmaßen taten mir weh, und es fühlte sich an, als käme ich gerade von einem Marathon zurück. In der darauffolgenden Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, ich würde die süßesten Früchte aus einer irdenen Schale essen. Als ich meinem Lehrer von diesem Traum erzählte, meinte er: „Das ist ein sehr segensreicher Traum, du erntest die Früchte deiner Sadhana.”
Viele Monate lang versetzte mich Kundalini in einen Zustand anhaltender Entrückung, der so köstlich war, dass nichts dem jemals nahekommt. Ich verschmolz mit einer Präsenz, die mir innigst vertraut zu sein schien und doch jenseits aller Vorstellungskraft war. Ich wurde gebadet in der Fülle bedingungsloser Liebe. Ich war derart trunken von Ekstase, dass der Geist völlig still wurde. Sprache ergab keinen Sinn. Ich war im Zustand von großem Erstaunen. Die Liebe, mit der ich genährt wurde, war so enorm, so voller Schönheit, so voller Gefahr. Sie ließ Melodien durch meine Adern fließen und stieg aus der Tiefe der Erde als endloses Lachen empor. Sie ließ Gedichte durch mich strömen und verwandelte meinen Körper in einen endlosen Strom von Glückseligkeit. Sie ließ mich tanzen und jegliche Regeln vergessen. Sie ließ mich absolut lächerlich dastehen. Niemand wäre verrückt genug, die Ufer des Vertrauten hinter sich zu lassen, ohne diese ekstatische Liebe zu spüren. Aber mein Lehrer hatte Shivas Namen in mein Herz geschrieben, und nun war jeder Atemzug gefüllt mit Om Namah Shivaya – und hallte durch den Raum meines Seins.
Nach dieser Phase von großer Öffnung schwang das Pendel langsam in die andere Richtung. Es folgten schwierige und oft schmerzhafte Jahre der Integration, die jedoch tiefe Einsichten und Offenbarungen brachten. Unweigerlich führte die umfassende innere Transformation auch in meinem äußeren Leben zu großen Veränderungen, und vertraute Strukturen, Perspektiven und Beziehungen lösten sich auf oder nahmen andere Formen an. Es war eine tiefe Zeit des Alleinseins, des Eintauchens in das Unbekannte, in Nichtwissen, in den Schoß der Natur und die Allverbundenheit hinter dem Spiel von Licht und Dunkelheit.
Eine neue Stufe in meinem spirituellen Training wurde eingeläutet, als mein Lehrer begann, mich scheinbar zu ignorieren. Es waren äußerst subtile Veränderungen, die ich wahrnahm, doch wenn die Herz-zu-Herz-Verbindung so stark ist, kann jedes Wort, jeder Tonfall verborgenen Schmerz berühren. Ich lernte, aufsteigende Emotionen und Empfindungen im Raum des Herzens zu halten, wo sie sich transformierten, ohne Spuren zu hinterlassen. Es half mir in dieser Phase, authentische spirituelle Autobiographien zu lesen, die unverstellt die Tiefe und Kompromisslosigkeit von Transformation sichtbar werden lassen, wie beispielsweise „Der Weg durchs Feuer“ von Irina Tweedie. Ihr Tagebuch von der Lehrzeit mit ihrem Sufi-Meister war eine Erinnerung daran, was es bedeutet, den Weg in die Freiheit zu gehen, auf dem wir aufgerufen sind, die Totalität dessen zu umarmen, was wir nicht sind, bevor wir in der Stille unseres eigenen Selbst ruhen. Kundalini-Shakti als das Licht des sich ausdehnenden Bewusstseins begann, unbekanntes Terrain meiner Psyche auszuleuchten, und brachte verborgene Anteile zum Vorschein – individuelle Traumata, kollektive Schatten, archetypische Energien. Aus diesem Grund betont Vamadeva in seinen Immersions immer wieder, dass psychologische Reife die Voraussetzung ist, um diesen Weg zu gehen. Ehrliche Selbstreflexion und die Verankerung im Zeugenbewusstsein waren essenziell, um gleichmütig in all das hineinzuschauen, was mir aus den Tiefen des Bewusstseins gespiegelt wurde – ohne in Identifikation und Projektion hängenzubleiben, ohne mich in Vermeidungsstrategien oder der Mentalität des Opfers zu verwickeln. Es war großes Vertrauen in das Wirken der Gnade nötig.
Was nun geschah war, dass mein Lehrer mich auf die „eigenen Füße” meines Selbst stellte. Mir wurde klar gezeigt, dass es nichts gibt im Außen, woran ich mich anlehnen oder anhaften kann. Ich befand mich nicht länger in lieblichen Gewässern, in denen man entspannt im Boot treibt, sondern in einer Art intensivem „Kampfkunst-Training”, in dem die stetige, gebündelte Aufmerksamkeit von unsagbarer Wichtigkeit ist. Ich lernte, meine Wahrnehmung auf die innere Führung auszurichten, den Strom der Liebe von Herz zu Herz, der völlig unabhängig von äußerem Verhalten oder persönlichen Präferenzen ist. Ich wurde immer wieder aus Komfortzonen herausgeholt und getestet, bis keinerlei Erfahrung mehr die Stille meines eigenen Seins überschatten konnte. In Vamadevas Worten ist Selbstverwirklichung lediglich spirituelle Reife – die direkte Erkenntnis der eigenen Essenz im Herzen. Und auf diesem Weg ist der erste und der letzte Schritt: im und als das Licht des eigenen Bewusstseins zu stehen.
Es erfordert großen Mut, einen Weg zu gehen, der völlig ohne Richtung ist, und oft fühlten sich die Herausforderungen unüberwindbar an. Aber erst wenn die Kraft der Liebe das Herz aufbricht, kann die Fülle gekostet werden, die das Leben in einem menschlichen Körper zu offenbaren hat. Es wartet so viel Schönheit darauf, entdeckt zu werden. Und vielleicht liegt die größte Schönheit darin, sich völlig in die Umarmung der Gnade zu werfen – „jederzeit bereit zu opfern, was wir sind, für das, was wir sein könnten”, wie es der große Seher Maharishi Mahesh Yogi einst ausgedrückt hat.
Die allumfassende Lehre des Selbst, die dieser Arbeit zugrunde liegt, gab mir das nötige Verständnis, um mich diesem Prozess aus ganzem Herzen hingeben zu können. Vamadeva betonte in seinen Immersions immer wieder die Essenz und Kernaussage des Kaschmirischen Shivaismus, welche unsere Sichtweise auf das Leben radikal verändern kann. Sie besagt, dass das Selbst aus zwei Aspekten besteht: dem stillen Aspekt von reinem Bewusstsein (Shiva) und dem dynamischen Aspekt der reflektiven Kraft des Bewusstseins (Shakti). Die Transzendenz und die Immanenz werden in dieser Philosophie erkannt als die zwei Ufer, durch die der Fluss der Existenz strömt. Das Eine erkennt sich durch das Zweite. Nur durch den Aspekt der Shakti kann reines Bewusstsein sich selbst reflektieren. Das Ziel der spirituellen Praxis ist es zunächst, das stille Ufer zu erreichen, um in transzendentes Bewusstsein einzugehen. Doch dann integrieren wir die Transzendenz allmählich in die gesamte Neurophysiologie, so dass sich Einheitsbewusstsein stabilisiert und wir von der Ebene von Sein-Wissen-Glückseligkeit leben können. Wir lernen, mit dem Herz zu sehen. Dieser Prozess ist die Geburt von göttlichem Bewusstsein, ist die Transformation von menschlichem Bewusstsein in all ihren unberechenbaren und erhabenen Facetten. Es ist der Prozess, in dem Individualität durch die Kraft der Hingabe beständig in den Strom der universellen Liebe geopfert wird, bis wir darin verschmelzen. Doch das Eingehen in diese Schönheit ist keine Auflösung, sondern eine Verwandlung, durch welche die Einzigartigkeit der eigenen Essenz erst beginnt, im Tempel des Seins zu leuchten.
Jedes Zeitalter hat ihre relevanten spirituellen Lehren, und in den Worten meines Lehrers ist der Weg der weiblichen göttlichen Kraft – der Weg der erwachten Kundalini-Shakti – die Lehre unserer Zeit. Gnade ist die einzige Kraft, die uns die Glückseligkeit des Seins kosten und den Himmel auf die Erde bringen lässt. Es ist die Kraft, die den Silberstreifen am Horizont sichtbar werden lässt, während wir miterleben, wie eine ganze Kultur und Gesellschaft in sich zusammenfallen. Dieser Silberstreifen ist wie die Morgendämmerung, wie die Geburt von etwas Neuem. Sie kann nicht aus dem dualistischen Geist kommen, sondern nur aus dem Feld, in dem alle Möglichkeiten wie flüssiges, goldenes Licht vibrieren – dem Schoß der Shakti.
Ich bin unendlich dankbar, dass ich in diesem Leben zu meinem Lehrer geführt wurde. Was mir gegeben wurde und gegeben wird durch die Tiefe dieser Herz-zu-Herz Verbindung, ist purer Segen und jenseits von Worten – und mich dem Leben zurückzuschenken, ist meine einzige mögliche Antwort. Was sich in meiner Beziehung zu Vamadeva zunächst zutiefst persönlich angefühlt hat, weicht langsam der Erfahrung von universeller Liebe. Sein Wesen spiegelt sich überall als mein eigenes wider. Ich kann nirgendwo sein, wo er nicht ist. Er hat mich zu derjenigen gemacht, die ich bin. Er ist das Licht meines eigenen Herzens. Und meine Wertschätzung seines Wesens ist die Wertschätzung der gesamten Schöpfung und ihrer Quelle …
Jai Guru Dev
Sundari Ma — Freiburg, 24. Januar, 2021
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