Wollen, Wünschen, Begehren, Bevorzugen, Vermeiden: Auch wenn uns dieses Spiel nie wirklich befriedigt und stillt – es hält unser Leben, die Welt in Gang. Immer weiteres Wirtschaftswachstum wäre anders nicht möglich. Auch der Fortbestand der Menschheit hängt von dieser übermächtigen Kraft ab. Wer versucht, den Fesseln der Natur zu entrinnen, riskiert Lähmung, Stillstand, Depression und Tod. Gleichwohl gibt es Philosophien, die genau das zum Ziel haben oder zumindest als Zwischenziel, Etappe, verfolgen. Buddhismus und indische Philosophie, Schopenhauer und Nietzsche, aber auch Hegel mit seiner Phänomenologie des Geistes und Naturphilosophie kreisen um diese Problematik. Führt dieser Weg zum bloßen Erlöschen, zur endgültigen Auslöschung des Lebens im Nirvana oder Nichts? Oder öffnet dieser Durchgang eine neue Dimension, Lebensqualität, ein Leben nach dem Tod des Ich, ein höheres, ewiges Leben des unsterblichen Selbst?
Mit dem Begehren, den Attraktivitäten, Verlockungen der Welt, schwindet auch die Angst, der ständige Begleiter des Ich, die Kierkegaard und Heidegger eindringlich beschrieben haben. Nachdem in einem furchtbaren Augenblick das Ich, das auf seine ständig als Katastrophe gefürchtete völlige Vernichtung hinlebt, verschwunden ist oder zumindest aus dem Mittelpunkt gerückt wurde, geht das Leben überraschend weiter, ohne Angst, aber auch jenseits der gewohnten Koordinaten. Die gewohnten Interessen sind verschwunden. Was bleibt, ist das Leben, wie es ist.
Zuvor als überfordernd und bedrohlich gefürchtete Aufgaben können bewältigt, Verluste ertragen werden. Das nicht mehr im Mittelpunkt stehende, sich nicht mehr wichtig nehmende Ich, schaut verwundert zu, wie das Leben gelebt wird und Tag für Tag gelingt.
„Geh an die Orte, die du fürchtest“, lautet eine tibetische Weisheit, zugleich Titel eines lesenswerten Buches. Denn nur dann kannst du erleben, dass deine Ängste Illusionen waren, Täuschung, Maya, ebenso wenig wesentlich und substanziell wie deine Wünsche, Vorlieben, dein Begehren.
Was aber geschieht in diesem furchtbaren Moment, den Martin Buber als Gottesfinsternis bezeichnet hat und von dem es ihm ziemte zu schweigen? – Dem Ich öffnet sich blitzartig der Abgrund. Es sieht sich in jeder Hinsicht gescheitert und am Ende – intellektuell, moralisch, existenziell, sozial, beruflich, finanziell. Übersteht es diese vernichtende Einsicht, diesen absoluten Schrecken ohne den Verstand zu verlieren, wird es ein für alle Mal aus dem Mittelpunkt gerückt, ver-rückt. Die Verstrickung löst sich, der Ich-Komplex erlischt bis auf eine verschwindende Spur reinen Selbstbewusstseins, das zugleich Leere ist. Ich und Nicht-Ich zugleich. Bereit für das, was kommt.