Im Sommer konnten wir den Hunger nach Leben und Normalität bei vielen Menschen spüren. Die Pandemie hat augenscheinlich Wunden in den Herzen und Seelen der Menschen hinterlassen. Und von der Krise sind wir Anfang des Jahres in die nächste geschlittert. Anbei ein paar Strategien von Prof. Dr. Luise Reddemann, die dir helfen, Veränderungen zu akzeptieren und hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen.
INTERVIEW
Doris Iding: Viele Beziehungen sind kaputt gegangen aufgrund unterschiedlicher Haltungen im Umgang mit der Krise. Menschen sind depressiv geworden. Andere haben ihre Hoffnung in eine bessere Zukunft verloren. Was können wir tun, damit diese Verletzungen gut versorgt werden und wir heilen können?
Luise Reddemann: Das ist sicher sehr komplex. Man könnte sich fragen, wie es gekommen ist, dass Beziehungen zerbrochen sind. Waren sie vielleicht zuvor schon brüchig? Was hat die Pandemie bewirkt? Was kam aus ganz anderen Gründen? Zum Beispiel aus einer sich immer stärker breitmachenden Haltung heraus, dass man möglichst immer einer Meinung sein sollte. Während der Pandemie hat sich meines Erachtens eine erschütternde Intoleranz gezeigt, dort, wo früher doch eher Bereitschaft zu Gesprächen war und zum Aushalten von Differenz. Man kann sich fragen, was habe ich erwartet? Warum war mir Gleichklang so wichtig? Zeigt sich Zuneigung nicht auch im Respekt vor der Andersartigkeit der anderen?
Haben Sie dazu vielleicht sogar 2-3 kleine Übungen?
Wie wäre es, bei einem Spaziergang, sich bewusst zu machen, dass kein Baum dem anderen gleicht, um bewusster Verschiedenheiten als Chance wahrzunehmen? Sich zu fragen, warum war es mir so wichtig, dass wir gleicher Meinung sind? Wie alt fühle ich mich, wenn ich das zu brauchen meine? Wie viel Angst spielte da eine Rolle? War sie realistisch oder war ich so verunsichert, dass ich im „Gleichklang“ Halt gesucht habe.
Wie können wir Vertrauen in das Leben zurückgewinnen, Zuversicht entwickeln?
Indem wir akzeptieren, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben. Es ist ein weit verbreitetes Narrativ, dass wir alles kontrollieren können, was aber niemals stimmt. Die Herausforderung könnte darin bestehen, sich das bewusst zu machen und wiederum zu schauen, wie alt fühle ich mich eigentlich, wenn ich so wenig Vertrauen in mir spüre. Ist das die erwachsene Person oder könnte es ein jüngerer Anteil von mir sein? Dann kann ich mich fragen, wie ich diesen Teil liebevoll versorgen könnte, damit er sich sicherer fühlt. Als erwachsener Mensch kann ich vermutlich die Wahrheit vertragen, dass sich alles ständig verändert.
Viele Menschen haben darauf gehofft, dass sie ihr altes Leben zurückbekommen. Aber das „alte Leben“, das es vor der Pandemie gab, gibt es nicht mehr. Die Kollateralschäden sind groß, der Verlust von Lebenszeit, Arbeitsplätzen etc. sitzt vielen Menschen noch in den Knochen. Wie können wir mit dieser Trauer gut umgehen?
Bei allen Fragen wird etwas deutlich, was ich „Kontrollwahn“ nennen möchte. Leben ist Veränderung. „Das einzig Unveränderliche ist die Veränderung“ – das wusste schon vor mehr als 2000 Jahren Laotse.
Der Ukrainekrieg und die Inflation sind die nächsten Szenarien, die Menschen Angst machen. Haben Sie hier Empfehlungen, wie wir lernen können, mit solchen Bedrohungen umzugehen? Auch hier gerne 2-3 Übungen.
Dass Krieg wieder eine Option ist, empfinde ich als traurig und bitter. Möglicherweise könnte es helfen, sich zu fragen, was wünsche ich mir in Bezug auf das Kriegerische in uns allen? Wie will ich in mir damit umgehen? Und im Außen? Will ich mitgehen bei den kriegerischen Lösungen und wie fühle ich mich da? Gibt mir das Sicherheit? Kann ich mir auch andere Lösungen vorstellen und wie fühle ich mich da? Könnte ich mich damit befassen, wie ich mich engagieren könnte?
Wie entwickeln wir Gelassenheit, um entspannt durch unsichere Zeiten zu gehen?
Gelassenheit hat viel mit Akzeptanz zu tun. Dabei kann helfen zu akzeptieren, dass wir nicht alles kontrollieren können. Andererseits kann sich jede Person jederzeit auch fragen, welche Handlungen sie sich vorstellen könnte, dass sie das Gefühl haben kann, einen – meinethalben klitzekleinen – Beitrag zum Frieden zu leisten. Im Übrigen denke ich, wir können nicht erwarten, dass wir jederzeit „entspannt“ durch schwierige Zeiten gehen. Es ist ok, angespannt zu sein!
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Zum Weiterlesen:
Luise Reddemann: Die Welt als unsicheren Ort. Klett Cotta, 2021