Gesundes und ungesundes Atmen.
Was soll überhaupt diese ganze Idee des „bewussten Atmens“? Ist der Atem nicht etwas, das sich, wie auch unser Herzschlag, unsere Verdauung, die Körpertemperatur, die Arbeit der Hormone und viele andere Prozesse in unserem Körper, eigentlich ganz von selbst – oder autonom – vollzieht? Wir kamen ja auch nicht mit einer Anleitung zum richtigen Atmen auf die Welt, sondern wussten als Säugling vom ersten Atemzug an, wie richtiges, natürliches oder, technisch ausgedrückt, funktionales Atmen geht.
Ja, es ist richtig, der Atem wird in erheblichem Maße autonom gesteuert. Alles andere wäre auch ein Problem: Man stelle sich vor, wir müssten rund um die Uhr bewusst daran denken, zu atmen! Doch die Tatsache der autonomen Steuerung des Atems bedeutet nicht, dass dies schon die Voraussetzung für einen jederzeit gesunden Atemprozess wäre. Auch andere autonome Prozesse, wie z.B. unser Appetit, die Verdauung, Schlaf, natürliche Bewegung und anderes funktionieren nicht immer schon deshalb perfekt, weil sie sich auch ohne unser bewusstes Zutun vollziehen. Ganz im Gegenteil: Es sind gerade diese natürlichsten Prozesse – Schlaf, Ernährung, Bewegung und eben der Atem –, die in unserer modernen Welt immer mehr zum Problem werden. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig. Nur zwei von zehn Berufstätigen sagen von sich, ihr Schlaf sei erholsam. Und viele bringen große Teile ihres Tages im Sitzen zu, oft geplagt von Stress. Sogar nährende Praktiken wie Yoga oder Sport werden nicht selten zu einem stressbelasteten Leistungsthema: Wer läuft die längsten Runden? Wer steht am schönsten im Handstand?
Besonders sensibel, schnell und nachhaltig aber reagiert der Atem. Er ist wie ein Spiegel aller Erfahrungen, die wir machen. Wenn wir fröhlich-entspannt leben, geht er anders als unter Druck oder Sorgen. Menschen, die Traumata erlebt haben, atmen anders als Menschen, die solche Erfahrungen nicht kennen. Jedes Erlebnis und jedes Gefühl prägt sich dem Atem auf und hinterlässt Spuren in seinem Muster.
Aber nicht nur die Dinge, die sich unserer Kontrolle weitgehend entziehen (unbewusste Prozesse, äußere Einflüsse), formen unseren Atem, sondern auch unsere bewussten (Atem-)Handlungen, die zu Gewohnheiten werden. Der Atem ist unserem bewussten Willen weit mehr zugänglich als andere autonome Prozesse: Wir können z.B. willentlich den Atem unterbrechen, doch nicht den Herzschlag; wir können willkürlich die Atemfrequenz erhöhen, nicht aber den Blutdruck; wir […]