Sich vom Leben nicht verhärten zu lassen, ist nicht einfach – und erst recht nicht so leicht, wie Selbsthilfe-Ratgeber und Positive-Thinking-Welle suggerieren. Und doch können wir in unserem Herzen auch in schmerzvollen Zeiten eine unglaubliche Zartheit finden.
Der Archetyp des verwundeten Heilers, in der Mythologie Chiron, das Kintsugi-Prinzip (vgl. YOGA AKTUELL Nr. 128), das bekannte Rumi-Zitat „Es ist die Wunde, durch die das Licht hereinströmt“1 – sie alle erinnern uns daran, dass Wunden – innere wie äußere – Teil unseres irdischen Wegs sind und gerade sie uns auch mit dem Überirdischen, dem Unvergänglichen, dem Unverwundbaren verbinden.
Wenn uns das Leben viel abverlangt hat oder uns die Schrecken von Ausbeutung und Habgier, von Brutalität und Aggression oder viele andere Übel in der Welt in den Knochen stecken, fühlen wir uns manchmal verkrustet und verhärtet, scheinen uns kaum noch zu spüren. Viele kennen aber auch die Erfahrung, dass man sich gerade in schwierigen Zeiten, inmitten von persönlichen Problemen, von Unsicherheit und Schmerz, manchmal tief im Inneren heil und ganz fühlt; dass ein seltsamer Trost das Herz erfüllt, den man immer wieder aufleuchten spürt – und sei es nur in kurzen Momenten der Ruhe. Mitten in die Trauer und Traurigkeit mischt sich eine seltsame Süße, mitten in der größten Schwäche rührt sich eine zarte, aber belastbare Kraft. Und gerade, weil wir all diese Traurigkeit spüren, weil wir fühlen, mitfühlen, weil es – oder jemand – uns nicht egal ist, sind wir mit der Kostbarkeit unseres Herzens in Kontakt.
Manchmal haben wir das Gefühl, dass das Leben uns regelrecht weichkocht. Das kann sehr zermürbend sein, hat aber auch den Aspekt, dass wir eben, ganz im Sinne dieses Bildes, weicher werden: mitfühlender gegenüber uns selbst und anderen, aufmerksamer, sanfter, feiner und empfänglicher in unserer Wahrnehmung, zudem flexibler, und doch unseren innersten Werten vielleicht näher und treuer als je zuvor. Wir können auch versuchen, die Wechselfälle des Lebens abzuschmettern und an uns abprallen zu lassen, doch dann machen sie uns hart und können uns am Ende sogar leichter brechen. Wenn wir zulassen, dass wir weicher werden, können wir hingegen vieles an- und aufnehmen und manches transformieren.2
Das Prinzip Hoffnung
„Mehr als alles behüte dein Herz“, so heißt es bei Salomon (Sprüche 4, Vers 23) – und man möchte hinzufügen: Halte es auch offen und zugänglich, denn sonst bist du nicht verbunden mit dem Leben. Auf das Herz gut aufzupassen, bedeutet auch, es nicht hart werden oder hinter einer dicken Mauer verschwinden zu lassen.
Vielleicht wird ein Teil von uns immer wütend sein – wütend über all die Ungerechtigkeit, das Elend, die Grausamkeit. Dies dürfen wir uns zugestehen, anstatt es durch Spiritual Bypassing wegzudrücken oder uns in pseudo-spirituellen Plattitüden zu verlieren, die oft nichts als mehr oder weniger gut getarnte Gleichgültigkeit sind. Wo immer es uns möglich ist, sollten wir diese innere Reaktion als Anlass nutzen, um im Außen aktiv zu werden und für das, was wir schützen wollen, einzustehen. Und vielleicht gelingt es uns, aus der Energie unserer Liebe für das, was wir behüten möchten, statt aus der Energie der Wut zu agieren. Sich vom Leben „weichkochen“ zu lassen, bedeutet also nicht, nicht mehr für das einzutreten, was einem in der Welt oder in der Gesellschaft wichtig ist. Und genauso heißt es auch nicht, die ureigensten Hoffnungen und Träume ad acta zu legen und zu resignieren. Wobei aufgeben – engl.: surrender – manchmal alles ist, was bleibt. Aber dieses Aufgeben heißt nicht unbedingt, nicht mehr zu kämpfen. Das ist zwar paradox, doch das paradoxe Sowohl-als-Auch wird dem Dasein – mit allem, was dazugehört – meistens viel eher gerecht als ein stures Entweder-Oder. Nicht umsonst heißt es, die Hoffnung stirbt zuletzt – und das ist gut so!
Hingabe
In der spirituellen Szene und der Selbsthilfeliteratur ist es ein Dauerthema: sein versus tun, mitfließen versus kämpfen, loslassen und geschehen lassen vs. schöpfen und sich aktiv bemühen – wobei stets beide Pole ihre Berechtigung haben, die Kunst aber darin besteht, sie in einem dynamischen Gleichgewicht zu integrieren, bzw. aus der eigenen Intuition entspringend immer wieder stimmig zwischen diesen Polen zu fließen. Oft wird in diesem Zusammenhang das Serenity Prayer des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zitiert, das so beginnt:
God, grant me the serenity to accept the things I cannot change,
Courage to change the things I can,
And wisdom to know the difference.Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Besonders zu beachten ist hier der dritte Halbvers. Denn spüren und erkennen wir immer zuverlässig, wann wir eine Situation beeinflussen können, und wann wir gegen bestimmte Umstände trotz aller Schöpfer- und Mitgestaltungskraft machtlos sind?
Manche tendieren zur Dauerresignation und halten alles sehr schnell für aussichtslos, während manch andere denken, sie könnten allein durch ein positives Mindset, durch Visualisieren und vielleicht ein bisschen Anstrengung jede beliebige Realität manifestieren. Letztere verstehen unter „loslassen“ meistens, ihre Visionen dem Universum zu übergeben, was sicherlich ganz und gar nicht falsch ist – nur sollte man sich dabei auch bewusst sein, dass möglicherweise nicht jeder entsandte Wunsch erfüllt und nicht alles vom Bild auf dem Vision-Board zur Wirklichkeit wird.
Fruchtbarer erscheint eine Herangehensweise, bei der ich das mir Mögliche tue – und zwar mit aller Leidenschaft, Hoffnung und Kraft –, zugleich aber auch erkenne, dass es vielleicht nicht reichen wird, um das, was ich damit erreichen möchte, zu schaffen oder vollumfänglich zu verwirklichen. Die Möglichkeit des Scheiterns zu akzeptieren und sich bei allem hingebungsvollen Tun und Kämpfen immer wieder auch einer höheren Macht vertrauensvoll hinzugeben, ist der Weg, bei dem man sich selbst voll einbringt, mit allen Ressourcen und aller Lebens- und Herzenskraft, sich aber auch dem anvertraut, das größer ist als man selbst. Zu akzeptieren, dass man nicht alles kontrollieren oder willentlich „machen“ bzw. herbeiführen kann, aber stets getragen wird von dem, worin unsere gesamte Existenz eingebettet ist, kristallisiert sich als Schlüsselelement heraus, und hilft, nicht kalt zu werden, wenn man gegen die sprichwörtlichen Windmühlen gekämpft hat oder vom Leben in die Knie gezwungen worden ist.
Können wir von uns verlangen, alles zu verzeihen?
Weich zu sein und zu akzeptieren, was ist, heißt für mich entgegen dem, was in der spirituellen Literatur oft geschrieben und gefordert wird, nicht unbedingt, rigoros alles zu vergeben. Mental wissen wir, dass Vergeben großmütig und heilsam ist und wir uns dadurch auch selbst von toxischen Anhaftungen befreien, aber in unserem tiefsten Inneren fällt uns dieser Schritt nicht immer so leicht, wie er klingen mag – egal wie sehr wir uns dessen bewusst sind, dass auch die Person, die uns verletzt hat, zuvor verletzt worden sein mag und im Grunde Mitgefühl braucht. Es mag Situationen geben, in denen wir einen Eigenanteil an der Dynamik erkennen, so dass durch diese Erkenntnis Vergebung geschieht – in anderen Situationen wiederum ist das allerdings nicht so, und dann sind übrigens auch die üblichen vagen Verweise auf karmische Gerechtigkeit (die wohl kaum ein Mensch in ihrer Komplexität auch nur annähernd durchschaut) überhaupt nicht hilfreich. Vergeben kann man nicht forcieren – es ist ein Prozess, der Zeit braucht, ebenso wie Wunden nicht von heute auf morgen heilen, und wie manchmal Narben zurückbleiben, die auch später noch wehtun werden. Wenn wir irgendwann zu unserem Ursprung zurückkehren, können wir sicherlich allen vollkommen verzeihen – hier im Leben, als Menschen, hingegen zwingen wir uns oft dazu und machen uns dabei etwas vor. Wenn ich also etwas nicht vergeben kann, dann besteht meine Zartheit und Güte auch darin, mir selbst zu verzeihen, dass ich es nicht (oder vielleicht lediglich noch nicht) kann. Nur so bleibe ich wahrhaftig mit mir selbst in Kontakt und rutsche nicht in eine Spirale von Unzulänglichkeitsgefühlen.3
Akzeptierend und durchlässig zu sein, ist möglicherweise also anders, als wir es uns vorstellen, und es hat nichts mit „spiritueller Perfektion“ zu tun. Gefühle wie Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, Ohnmacht oder Schmerz haben ihren Platz darin.
„Damit dein Glaube felsenfest wird, muss dein Herz so weich wie eine Feder sein“, heißt es bei Shems Tebrezi.4 Diese Aussage hat verschiedene Bedeutungsebenen, und nicht über alle können wir an dieser Stelle sprechen. Wenn man den Begriff „Glaube“ auf eine nicht an den religiösen Kontext gebundene Bedeutung erweitert, passt sie jedoch hier ganz wunderbar als Schlusspunkt. Weich und gefestigt zugleich zu sein, ist eine Gnade, und irgendwo da drinnen wartet sie auf uns.
1 Übersetzt nach der engl. Formulierung von Coleman Barks
2 Es gibt allerdings Ereignisse im Leben, bei denen Körper und Seele so heftig verletzt werden, dass es sehr, sehr schwierig ist, sie in die Weichheit des Herzens einzubetten und Frieden damit zu machen. Sie sind von solcher Härte und Schärfe, dass es mehr als nachvollziehbar ist, dass viele Betroffene dicke Schutzmauern um sich errichten und sich von dem Erlebten nicht mehr erholen. Hier steht zunächst die Hilfe durch Traumatherapeutinnen und -therapeuten im Vordergrund.
3 Vgl. dazu: Robert Ohotto: Mystical Forgiveness vs. Mental Forgiveness: Releasing the Past through True Forgiveness, YouTube-Video vom 15.4.2022
4 Übersetzt nach Elif Shafak: The Forty Rules of Love / Aşk’ın kırk kuralı