Der im Yogasitz meditierende Gott ist einer der am häufigsten verehrten Götter im Hinduismus. Abbildungen, die rund 5000 Jahre alt sind und bei Ausgrabungen zutage kamen, zeigen ihn als einen wilden, starken Gott. Sie machen deutlich, dass er bereits seit Jahrtausenden von den Menschen angebetet wird. Im Rg-Veda wird er nicht als Shiva bezeichnet, sondern als Rudra, ein wilder Gott, der sehr zerstörerisch ist und viele Eigenschaften mit Shiva teilt.
Was bedeutet Shiva?
Shiva bedeutet wörtlich übersetzt „der Glücksverheißende“. Weitere Namen sind Mahadeva oder Parameshvara – eine Bezeichnung für den obersten aller Götter. Als Teil der göttlichen Trinität bestehend aus Brahma – Vishnu – Shiva, steht er sowohl für die Vernichtung als auch für die Erneuerung. Brahma ist der Schöpfer und Vishnu fällt die Rolle als Bewahrer zu. Im Shivaismus, eine der Hauptrichtungen im Hinduismus, wird Shiva als der höchste Gott selbst beschrieben. Er einigt den Schöpfer, den Bewahrer und den Zerstörer in einer Erscheinung. Die Zerstörungskraft dient jedoch der Wandlung. Denn ohne Wandlung ist keine Transformation möglich. Nur dann, wenn wir Altes gehen lassen, kann Neues entstehen.
Facettenreich und bunt
Im indischen Götterpantheon gilt Shiva als der facettenreichste Gott von allen. Mal tritt er als Verführer auf, mal als meditierender Asket. Mal erscheint er als Lebemann mit ekstatischen Zügen und einer Tendenz, Opium und Haschisch zu konsumieren. Ein anderes Mal ist er der verantwortungsvolle Familienvater. Insgesamt gibt es 24 verschiedene Erscheinungsformen von Shiva. Obwohl sie sich äußerlich sehr voneinander unterscheiden, sind die vorherrschenden Qualitäten Erhabenheit und Gleichmut. Besonders gerne wird Shiva als starker junger Gott dargestellt. Sein vor Kraft strotzender Körper ist vollkommen mit weißer Asche bestrichen. Auf seinem Kopf türmen sich wilde, verfilzte Locken. Eine Mondsichel, ein Symbol für Soma, den Nektar der Unsterblichkeit, trägt er als Haarschmuck. Um seinen Hals winden sich giftige Königskobras. Sie symbolisieren, dass Shiva seine fünf Sinne beherrscht und ihn nichts wirklich bedrohen kann.
108 Namen
In den alten Texten des Shiva-Purana hat der Gott der Zerstörung und Transformation insgesamt 108 Namen. Er wird unter anderem als „Mahadeva – großer Gott“ oder „Mahesha – höchster Herr“ oder „Shankara – der Segensreiche“ oder als „Vishvanatha – Herr des Universums“ bezeichnet. Bekannt ist Shiva aber auch unter dem Namen „Nataraja – der König des Tanzes“. Als kosmischer Tänzer tanzt Shiva inmitten eines Feuerkreises. Meistens hat er vier oder acht Arme. Tanzend steht er auf Apasmara, dem Dämon der Unwissenheit und Verblendung, womit ein weiteres Mal gezeigt wird, dass er alles Störende überwunden hat. Der kosmische Tanz stellt die Zerstörung und Erneuerung dar. Sie versinnbildlicht die Befreiung der menschlichen Seele aus den weltlichen Verstrickungen. In seinem Tanz können wir auch die nie endende Bewegung des Universums erkennen, die sich auch in der Natur widerspiegelt: Ebbe und Flut. Sonnenaufgang und Untergang. Shiva wird auch als „Bhairava – der Schreckliche“ gezeigt und als Mahayogi dargestellt.
Als König der Yogis sitzt er meditierend auf dem Berg Kailash. Sein ganzer Körper ist mit Lehm oder Asche beschmiert, seine Haut ist blau, weil er das Gift des Urmeeres getrunken hat, um das Universum zu retten. Diverse Bilder zeigen, dass Shiva Lust, Gier und Hass überwunden hat: Wenn er auf einem Tigerfell sitzt und meditiert, oder aber wenn sich die Kobras um seinen Hals und seine Arme schlingen. Sie alle symbolisieren, dass Shiva die Geistesgifte überwunden hat.
Es gibt auch zahlreiche Darstellungen, die Shiva gemeinsam mit seiner Frau Parvati und seinen Söhnen Ganesha und Skanda zeigen.
Shiva in Form des Lingams
Shiva begegnet uns aber auch immer wieder in Form des Lingams. Lingams sind kosmisch geformte Steine. Sie spielten bereits in alten Steinkulten eine wichtige Rolle. Übersetzt wird Lingam mit „Zeichen“ oder „Symbol“. Gerne aber wird das Lingam als Phallussymbol gedeutet und stellt damit die Potenz und Schöpferkraft Shivas dar. Auf einer tieferen Ebene hingegen symbolisiert dieses Zeichen hier „das Eine ohne ein Zweites“, was die höchste Form Shivas darstellt.
Die vielen Erscheinungsformen Shivas – was gehört dazu?
Nandi ist Shivas Reittier. Er ist der Stier aus der hinduistischen Mythologie. In Shiva-Tempeln sieht man ihn reich verziert als Wachtier. Weitere Gegenstände begleiten Shiva häufig auf Abbildungen und Skulpturen:
- die Damuru, eine Handtrommel. Sie symbolisiert den Urrhythmus des Entstehens und Vergehens.
- der Trishula, ein Dreizack, der die drei Gunas symbolisiert: Tamas (Dunkelheit und Trägheit), Rajas (Unruhe und Bewegung) und Sattva (Harmonie und Licht). Sie stellen die grundlegenden Prinzipien der Urmaterie der Natur dar.
Ein weiteres Charakteristikum von Shiva ist das Dritte Auge auf seiner Stirn. Es steht für die höchste Erkenntnis. Diese hat er erlangt, indem er sich von den Geistesgiften befreit hat und den Schleier der Illusionen gelüftet hat. Sein zerzaustes, wildes Haar ist häufig zu einem hohen Haarknoten gebunden, auf dem die Halbmondsichel sitzt. Sie symbolisiert den Zyklus der Zeit. Auch diesen hat Shiva transzendiert. Aus seinen Haaren strömt Wasser, was für den mystischen Fluss Ganges steht, der im Himmel entspringt.
Shiva, ein hilfreicher Begleiter in transformierenden Zeiten
Alles hat seine Zeit. So wie es eine Zeit des Wachstums und der Fülle gibt, so gibt es auch eine Zeit des Loslassens und des Vergehens. Machen wir uns mit dem Aspekt vertraut, dass die Vergänglichkeit ein unumstößlicher Bestandteil unseres Daseins ist, brauchen wir Zeiten großer Umwälzungen nicht mehr persönlich zu nehmen. Gerade in der jetzigen Zeit erleben wir alle diesen Wandel. Erkennen wir den Wandel an und blicken wir hinter den Schleier der Illusion, dass alles beständig bleibt, können wir in diesen Zeiten heiter und gelassen bleiben. Shiva hilft uns dabei. Sein kosmischer Tanz macht deutlich, dass Zerstörung geschehen muss, damit etwas Neues entstehen kann. Sein eleganter Tanz, seine Wachheit, Präsenz und Klarheit können uns Mut machen. An ihm können wir uns orientieren und ebenso durch diese Zeit des Wandels tanzen. Auf der anderen Seite zeigt Shiva uns als Yogi, dass es auch die Mediation braucht, um Samadhi zu erreichen. Bewegen wir uns also in diesem Tanz zwischen Lebensfreude und innerer Sammlung, kreativem Ausdruck und Stille, Verlust und Neubeginn, werden wir gestärkt durch diese transformierende Zeit gehen.
Meditation mit Shiva
Wenn du über Shiva meditieren möchtest, nimm den Ausatem zur Hilfe. Er kann dir auf natürliche Weise dabei helfen, loszulassen. Überleg dir vor der Meditation, in welcher Manifestation du auf Shiva meditieren möchtest: Als König der Yogis, der im Samadhi verweilt, oder als kosmischer Tänzer.
- Meditation mit Shiva als König der Yogis
Einatmend kannst du innerlich oder laut OM sprechen oder flüstern. Ausatmend kannst du das Mantra Om Namah Shivaya singen. Achte darauf, dass der Ausatem länger ist. Lass dich am Ende der Ausatmung in die Leere hineinfallen, die sich dir eröffnet. Entspann dich in die Leere hinein. Vertrau ihr. Sie ist dein wahres Zuhause.
- Meditation mit Shiva als kosmischem Tänzer
Wenn du dich für eine Tanzmeditation entscheidest, so lass den Atem fließen. Nimm wahr, wie er sich von selbst seinen Weg sucht. Lass auch hier los. Tanz mit Shiva – und werde frei. Mach diese Meditation am besten täglich und über einen längeren Zeitraum. Sie wird dich stärken und befreien, was nicht zu dir gehört.
Shiva als Begleiter
Wenn du dich von Shiva angesprochen fühlst oder er dir möglicherweise im Traum oder einer anderen Vision erscheint, mach dir bewusst: Die Zeit der Kompromisse ist vorbei. Shiva fordert dich auf, Stellung zu beziehen. Er möchte, dass du ganz und gar für dich selbst einstehst. Seine Botschaft an dich lautet: Du hast die Wahl! Du brauchst dich nicht länger als Opfer äußerer Umstände zu fühlen. Du kannst die Herrschaft über dein Leben übernehmen! Erweitere deine Grenzen. Wenn dich Zweifel oder Ängste übermannen, tanze sie in Schutt und Asche. Befrei dich von allen Einschränkungen, Vorstellungen und Begrenzungen. Trau dich! Sei so mutig wie Shiva. Lebe dein Leben. Folge dem Ruf deiner Seele und nicht den Vorstellungen deines Verstandes.
Tanz durch die Stürme dieser aufwühlenden Zeit. Singe dazu die Verse eines nepalesischen Liedes: „Tanzen will ich deinen Tanz, Nataraja, mit dem du die Welt neu erschaffst in die donnernde Musik des Weltalls.“
ShivaMerkmale: Loslassen. Innere Sammlung. Samadhi. Höchste Glückseligkeit. Kreativität. |
Zum Weiterlesen:
Kalashatra Govinda: Shiva Shiva! Das Geheimnis der indischen Götter – Mythen, Meditationen, Rituale. Kailash Verlag
Isabel Arés: Das Orakel der indischen Götter. 44 Karten mit Anleitungsbuch. Allegria Verlag
Tiziana Stupia: Meeting Shiva. Mein Weg von der Liebe ins Erwachen. Neue Erde Verlag