Viele Menschen träumen davon, am Meer zu leben. Für manche erfüllt sich dieser Traum. Nina Güngör ist eine davon. Seit vielen Jahren lebt sie an einem wunderschönen Ort in der Türkei. Dort leitet sie zusammen mit ihrem Mann Ismail die Lykia Lodge in Adrasan. Wie es dazu kam, erzählt sie uns in diesem Interview.
INTERVIEW
YOGA AKTUELL: Du leitest zusammen mit deinem Ehemann Ismail die Lykia Lodge in Adrasan. Was hat dich in die Türkei geführt?
Nina Güngör: Das Universum ;-). Ich hatte zum Jahreswechsel einen Wunsch formuliert, der mit einem zehn Jahre alten Traum oder besser einer Vision von einem Projekt im Ausland, was eigentlich Irland war, zusammenhing. Dann hat mir meine Therapeutin von einem Retreat erzählt, das sie geplant hatte, und ich habe mich dafür angemeldet. Und das war im Lykia, bzw. hieß es damals noch nicht so, gehörte aber schon Ismail und seiner Ex-Frau. Ich hatte an sich weder die Türkei als Ziel im Kopf, noch war ich auf der Suche nach einem Partner. Das Retreat wurde dann kurzfristig abgesagt und ich habe mich entschieden, ein anderes Retreat in der Folgewoche zu buchen und bin einfach 14 Tage geblieben. Ich glaube, ohne diese Änderung wäre die Geschichte eine andere geworden….
Wie kam es dann zu dem endgültigen Entschluss dort zu bleiben?
Es sind einfach alle Puzzleteilchen an ihren Platz gefallen. Mehr oder weniger, ohne dass ich etwas dafür tun brauchte. Außer ja zu sagen. Dazu kommt, dass ich hier vom ersten Moment das Gefühl hatte: „Alles ist gut, ich bin zu Hause“.
Was liebst du besonders an dem Land – außer deinen Mann?
Die herzliche Art der Menschen, das ist wie eine Umarmung. Diese unglaubliche Gastfreundschaft, die mir immer wieder wie ein Wunder vorkommt. Man fühlt sich jederzeit so willkommen und richtig. Die Gelassenheit, auch wenn sie mein „deutsches Ich“ noch oft genug an die Oberfläche treibt. Das ist wohl eine meiner Lernaufgaben. Diese vielen wunderbaren regionalen Lebensmittel. Das ist noch Essen mit Geschmack. Die Vielfalt der Landschaft… Und natürlich auch dieses türkisblaue Meer, die Sonne und die langen Sommer und das Gefühl, doch jeden Tag irgendwie ein bisschen im Urlaub zu sein.
Dein Türkisch klingt für mich ziemlich fließend. Wo und wie hast du es gelernt?
Danke dir, das klingt es für türkische Ohren jedoch noch nicht. Es wird immer besser, auch weil ich die Hemmungen abgelegt habe. Das war ein großer Teil des Lernens. Ohne das ging es nicht vorwärts. Ich habe im zweiten Jahr hier ca. zehn Unterrichtsstunden genommen, bei einer Lehrerin in Beycik, so 45 Minuten von hier. Sie hat das Unterrichten dann leider aufgegeben und bis Antalya war es einfach zu weit. Also Learning by Doing, so lerne ich sowieso nur, ich bin kein didaktischer Lerner. Vor ein paar Jahren hatte ich dann noch das Glück bei einem Tandem mit einem Türken in Deutschland ganz viele offene Fragen klären zu können. Das hat mir einen riesen Auftrieb gegeben, auch was den Mut anging, einfach drauf los zu plappern.
Viele Yogalehrer, die ich kenne, träumen davon, in ein anderes Land zu gehen. Worauf sollte man deiner Meinung nach achten, wenn man auswandert.
Auf sein Herz. Dass es sich einfach wie der richtige / logische Schritt anfühlt.
Früher hätte ich gesagt, dass man die Sprache spricht. Denn dadurch erschließt sich eine Kultur. Aber ich habe es mit absolut null Sprachkenntnissen gemacht und das ging auch. Doch ich hatte dafür eine riesen Hilfe durch Ismail. Dafür musste ich allerdings auch meinen Drang nach Unabhängigkeit hinten anstellen.
Ich denke, das ist der Teil, den man am besten bedenken sollte. Wie komme ich in dem Land zurecht, organisatorisch, sprachlich, bürokratisch. Aber lernen können wir alles, wenn wir es nur wirklich wollen. Und wir müssen Akzeptanz mitbringen, dass die Dinge einfach anders sind. Wir können nicht ändern, wie ein anderes Land funktioniert, wir können nur unsere Einstellung ändern. Das lehrt auch Demut, aber da wissen die Yogalehrer ja am besten: Vorbeugen, vorbeugen, vorbeugen.
Gibt es etwas, was du aus Deutschland vermisst?
Meine Freunde. Sich mal am Wochenende zu verabreden, zusammen einen Tee trinken zu gehen und einfach „nur“ Nina zu sein. Und ganz selten noch mal der Klassiker: Ein deutsches Brot, aber so toll, wie ich mich daran erinnere, gibt es das (fast) nicht mehr.
Was ich überhaupt nicht vermisse, ist die Energie, die mir in Deutschland über die letzten Jahre begegnet ist. Die Stimmung, die Vibes, der Spirit, das ist für mich wirklich schwierig auszuhalten. Wir spüren das auch bei unseren Gästen mittlerweile.
Wie ist es für dich, in einem Land zu leben, welches bei uns als sehr restriktiv beschrieben wird. Spürst du das? Hast du dich in Deutschland freier gefühlt?
Freiheit ist ja etwas, was wir sehr subjektiv bewerten. Ich liebe meine Freiheit, die mir das Leben in der Natur bietet. Die Freiheit, die ich habe, weil ich hier in einem kleinen Dorf bin, sicher und behütet. Dass ich meine Vision realisieren kann…
Wir sehen unsere Aufgabe hier darin, die Menschen im Herzen zu berühren und eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Menschen wenigstens für eine Zeit in der Liebe leben können. Unsere aktuelle Weltpolitik spielt da eigentlich keine Rolle.
Dass wir uns auch einiges politisch anders wünschen, ist keine Frage. Aber da hast du sicher auch in Deutschland den einen oder anderen Punkt, den du dir anders wünschen würdest.
Ich persönlich fand die Menschen in Adrasan sehr freundlich und offen. Im Hinterkopf habe ich immer das Bild, das uns hier vermittelt wird von dem Islam, der sich durch Gewalt, Terror und Frauenfeindlichkeit auszeichnet. Wie sind deine Erfahrungen damit?
Extremismus zeichnet sich in der Regel durch Gewalt, Terror und Feindbilder aus. Und wenn man nur diese Extreme vorgehalten bekommt, formt sich so ein Bild. Leider stellen wir Menschen viel zu selten die Frage nach der anderen Seite und den Verhältnissen. Darum ist es wunderbar, dass du diese Erfahrung mit den Menschen hier machen konntest. Ich würde mir wünschen, dass sich viel mehr Menschen auf den Weg machen, zu persönlichen Begegnungen, eigenen Eindrücken, und wirklich über den Tellerrand schauen.
Mir wurde hier im Land stets mit Offenheit, mit Interesse für mich, mein Leben und mein Land, mit Gastfreundschaft und Herzlichkeit begegnet. Dem Bedürfnis, mich Teil davon sein zu lassen. Und mit einem ganz weiten Herzen. Einer in den Extremismus kippenden Seite bin ich persönlich hier nicht begegnet.
Zudem habe ich die Erfahrung gemacht, dass weibliche Gäste sich hier auch ganz frei und uneingeschränkt bewegen können. Trotzdem laufe ich um Erledigungen zu machen, nicht in Hotpants durch die angrenzende Kleinstadt, aber so würde ich auch in keine Bank oder Kirche in Deutschland gehen. Das hat nichts mit verschleiern zu tun, sondern ich verhalte mich meiner Ansicht nach einfach nach der hier geltenden Etikette.
Eure Lykia Lodge ist wunderschön und ihr habt zurzeit viele Gäste. Welche Yogapraxis hast du für dich, um bei all den Anforderungen in deiner Mitte zu bleiben?
Eine auf meine täglichen Bedürfnisse angepasste. Mehr Yin als Yang, zurzeit auch eher kurz als lang. Weniger „push“ und mehr, was mich glücklich macht, was mir nah ist. Was nicht heißt, dass ich nur die Übungen mache, die ich mag. Oft auch „nur“ ein meditativer Spaziergang mit meinem Hund Hermes in der wunderbaren Natur. Ich übe mich gerade wieder darin, der Praxis mehr Raum zu geben, als mir das in den letzten Jahren möglich war. Auch für mich ist das aktuell nötiger denn je.
Die Pandemie hat alle Menschen sehr geschlaucht. Welche Bedürfnisse und Nöte nimmst du derzeit bei den Gästen besonders vordergründig wahr?
Ruhe, Innehalten, weniger ist mehr.
Die Menschen sind so durcheinander, so erschöpft. Gleichzeitig können sehr viele kaum loslassen, den Druck, die Sorgen und die Themen der Zeit. Andere wiederum nutzen die sichere Umgebung hier, um einmal vollkommen loszulassen, weil sie gar nicht mehr anders können. Wir erleben stärker als früher, wie viel mehr Benefit die Gäste von zwei Wochen Auszeit haben. Der Unterschied in den Menschen ist danach frappierend.
Ein Bedürfnis ist ganz sicher, sich eine Resilienz aufzubauen, um nicht gleich wieder in diesen Strudel zu Hause zu geraten. Eine Woche Auszeit kann da eine Basis sein, aber es braucht ein starkes Fundament. Dafür versuchen wir hier ein Potpourri an Möglichkeiten anzubieten, aus dem sich hoffentlich jeder für zu Hause das mitnimmt, was ihn darin am besten unterstützt.
Was wünscht du dir für die kommende Saison?
Liebe in den Herzen der Menschen, so unendlich viel davon. Frieden! Lachen! Vertrauen und Schöpfergeist. Weiterhin so ein wundervolles und harmonisches Team hier vor Ort zu haben wie dieses Jahr. Und wie man im Englischen so schön sagt: Open heart – open mind!
Herzlichen Dank für das Interview!!!
Das Erdbeben am 6. Februar mit den Nachbeben hat einen großen Teil der Türkei in einem unvorstellbaren Ausmaß erschüttert und uns aus der Ferne mit. Nach wie vor werden überall noch dringend Hilfsgüter benötigt. Eine Möglichkeit, den Menschen dort etwas zukommen zu lassen, besteht zum Beispiel über Aktion Deutschland hilft. |