Zertifikate sind gut. Hingabe an die eigene Praxis ist besser. Denn nur wenn wir Yoga um seiner selbst willen praktizieren, werden wir eines Tages von der Essenz des Yoga wachgeküsst – und erkennen, dass kein Zertifikat dieser Welt diesen Kuss ersetzen kann.
Vor einigen Jahren besuchte ich das Retreat eines amerikanischen Meditationslehrers. Er ist ein ziemlich „alter Hase“ und verfügt mittlerweile über eine 40-jährige Meditationspraxis. In Europa ist er nicht sehr bekannt, in Amerika wird er unter Insidern hingegen sehr geschätzt. Ich genoss seine Präsenz und fühlte mich in seiner Gegenwart total sicher. Seinen Vorträgen war zu entnehmen, dass er selbst durch zahlreiche innere Täler gegangen war, die dunkle Nacht der Seele genauso kannte wie die Gipfelerlebnisse, die einer solchen spirituellen Dürrephase folgen können. Meine Seele konnte sich in seiner Gegenwart entspannen, und mein Geist war erfreut darüber, ganz nebenbei so viel fundiertes Wissen über Meditation zu bekommen. Dabei berief sich der Lehrer nicht auf die jüngsten Forschungsergebnisse aus irgendwelchen Laboren, sondern auf seine eigenen Meditationserfahrungen, die seiner Weggefährten oder der buddhistischen Tradition, der er seit vielen Jahren angehörte. Ich wähnte mich von seinem Wissen um innere Räume getragen. Das machte mir Mut, mich auf das Abenteuer Selbsterkenntnis während des Retreats einzulassen. Was immer sich zeigen würde, ich wusste, dass er da war, um mich durch dieses hindurchzubegleiten. In seiner Gegenwart war ich bereit, das da sein zu lassen, was sich offenbaren wollte. Auch die anderen Teilnehmer spürten, dass sie einen Meister der Meditation vor sich sitzen hatten.
Als ich mich im Jahr darauf drei Monate vor seinem Retreat anmelden wollte, hieß es, dass es ausgebucht sei. Ich war verblüfft und erfreut gleichermaßen. Verblüfft, weil im Vorjahr so wenig Teilnehmer dabei waren. Erfreut darüber, dass sich die Qualität dieses Lehrers anscheinend in so kurzer Zeit herumgesprochen hatte. Dem war aber nicht so: Als ich mit der Organisation des Retreats sprach, stellte sich heraus, dass dieses Retreat in eine Ausbildungsreihe eingebunden worden war. Der Großteil der Teilnehmer waren Coaches und Therapeuten sowie Menschen aus anderen helfenden Berufen, die eine Zertifizierung anstrebten. Als ich schließlich doch teilnehmen konnte, weil ich auf der Warteliste auf den ersten Platz vorgerutscht war, hatte ich das Gefühl, dass die Atmosphäre eine ganz andere war als […]