Wieso das alte spirituelle System so gut in die Gegenwart passt und die Basis des heute praktizierten Yoga darstellt.
Tantra ist hip. Wir sehen das Wort auf den Titelseiten populärer Zeitschriften und Bücher, oft mit suggestiven Andeutungen von sexuellen Erfahrungen der Superlative.
Tantra ist aber auch verwirrend: Was hat der Dalai Lama, der für sich in Anspruch nimmt, in einer tibetisch-tantrischen Tradition verwurzelt zu sein, mit einem Neo-Tantra-Workshop auf Bali zu tun? Und wie hängt das alles mit den eher fortgeschritten anmutenden mystisch-spirituell-somatischen Körpererfahrungen zusammen, die immer öfter in Yoga-Sitzungen angeleitet werden – in denen sich weite Räume im Kopf, im Herzen oder im Bauch öffnen und eine geheimnisvolle Kraft namens kuṇḍalinī den Körper wie magisch aufrichtet? Und dann ist da die Magie eines Mantras, wir begegnen Śiva und Śakti in ihrem ewigen Spiel – all das sind mögliche Eingänge hinein in das klassische Tantra: Ein ausgeklügeltes Gesamtsystem aus Übungen und eine Weltsicht, die darauf ausgerichtet ist, uns dauerhaft von Unwissenheit und (mental kons-
truiertem) Leiden zu befreien. Im Gegensatz zu manchen weltentsagenden fernöstlichen Gedanken passt Tantra aufgrund seiner radikalen Inklusion, dem unbedingten „Ja“ zu all dem, was ist, so hervorragend auch in unsere Zeit.
Wir sehen: Tantra ist vieles, und es ist auch alt – sehr alt! Diese reichhaltige Kombination aus Philosophie und Praxis hat ihre Wurzeln in schamanischen Vorstellungen des alten Indien und erlebte ihre Blüte als Shivaismus bzw. non-duales Śiva-Śakti-Tantra (NŚT) etwa zwischen 600 und 1.000 nach unserer Zeitrechnung.
Aber wir sehen auch: Obwohl die meisten das Wort „Tantra“ schon mal gehört haben, weiß kaum jemand Genaueres über die historische Entwicklung dieser indischen spirituellen Tradition. Akademische Studien zu Tantra haben wenig gemein mit dem, was unter dem gleichen Namen in Workshops der westlichen alternativen Spiritualität gelehrt wird. Diese tiefe Kluft entstand aus einer komplexen Aneinanderreihung seltsamer Missverständnisse sowie kultureller Fehlinterpretationen.
Warum sollte dies für moderne Westler von Interesse sein?
Es gibt einen wichtigen Grund: Millionen von Menschen im Westen praktizieren heute etwas, das „Yoga“ genannt wird. Eine Praxis, die zwar in Form und Kontext stark verändert wurde, aber in vielerlei Hinsicht auf die klassische Tantrik-Tradition zurückgeführt werden kann. Ähnliches gilt für moderne Formen des Buddhismus – insbesondere dessen tibetische Ausprägung hat ihre Wurzeln im Tantra. Die […]