Wenn es um eine gesunde Aufrichtung der Wirbelsäule geht, gibt es verschiedene Standpunkte, die für Verwirrung sorgen können. Wir haben mit Dr. Günter Niessen, Mediziner und Yogatherapeut, über das Hohlkreuz, die sogenannte „neutral spine“ und die Bedeutung von Anatomie für die Yogapraxis gesprochen.
Interview
YOGA AKTUELL: Im Yoga scheiden sich häufig die Geister daran, was eine gesunde Aufrichtung der Wirbelsäule überhaupt bedeutet. Die einen plädieren dafür, die Lordose in der Lendenwirbelsäule zu begradigen, indem sie das Becken nach hinten kippen („tuck the tail under“). Andere halten das für nicht mehr zeitgemäß und sind vom Konzept der „neutral spine“ überzeugt. Wie ist hier die Studienlage, und warum hat sich die Vorstellung davon, was gesund ist, verändert?
Dr. Günter Niessen: Nicht nur in der Yogaszene scheiden sich diesbezüglich die Geister, auch unter Ärzten und Physiotherapeuten gibt es verschiedene Ansichten dazu. Die Beanspruchung der Wirbelsäule hat sich in den letzten 30 bis 40 Jahren extrem verändert. Heute verbringen die Menschen ihren Alltag überwiegend im Sitzen. Früher, als die Menschen auf dem Feld gearbeitet, Lasten getragen und dabei den ganzen Tag ihre Rückenmuskulatur beansprucht haben, war es durchaus sinnvoll, gelegentlich das Becken nach hinten zu kippen, um die Rückenmuskultur zu entlasten. Heute sitzen wir nach dem Büro im Auto und danach auf der Couch – manchmal 10 bis 14 Stunden lang. Dabei wird die Wirbelsäule sehr stark in der Beckenkippung nach hinten beansprucht. Die wenigsten Menschen sitzen im Hohlkreuz. Meist sinken sie eher nach vorne gebeugt in sich zusammen, und die natürliche Lordose im unteren Rücken geht verloren.
Bereits in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts gab es zahlreiche Untersuchungen, die gezeigt haben, dass die gesamten Strukturen – also die Knochen und die Bandscheiben – dann gut beansprucht werden, wenn die Wirbelsäule sich in ihrer natürlichen Krümmung befindet und die Muskulatur an der Vorderseite und Rückseite des Körpers sowie an den Seiten aktiv ist. Das Konzept der Neu-tralstellung der Wirbelsäule („neutral spine“) bedeutet also vor allem, dass man versucht, diese wieder in ihre natürliche Krümmung und in eine Aufrichtung zu bringen. Sorgfältig durchgeführte biomechanische Studien, z.B. von Dr. S. McGill u.a., haben dies auch in diesem Jahrhundert bestätigt. Zu beachten ist, dass die so genannte „Neutralstellung“ keine fixe Größe darstellt. […]