Schmerzen loslassen.
Alle fühlenden Wesen erfahren Schmerz. Die meisten von uns müssen zwar zum Glück nicht fürchten, Opfer von Krieg oder Gewalt zu werden, so wie das in vielen Teilen der Welt der Fall ist: Wir können nicht erahnen, wie tief die körperlichen und seelischen Traumata wohl gehen, die Bombenangriffe hinterlassen. Dennoch erleben auch wir in unseren vergleichsweise wohlhabenden und behüteten Breitengraden der Erde Schmerz. Wir erfahren Verlust, Ängste und Sorgen. Wir erleben Machtlosigkeit, Zorn und Frustration. Wir werden verletzt, körperlich wie seelisch.
Im Grunde beginnt das schon mit dem ersten Atemzug, sogar früher noch, wie der berühmte Psychiater und Bewusstseinsforscher Stanislav Grof in seinen Büchern eindrücklich zeigt, wenn er das Trauma des Geborenwerdens beschreibt: Nichts im Leben eines Menschen käme an traumatischer Intensität jener Erfahrung gleich, so Grof, die wir alle machen mussten, als das Leben uns die unvergleichliche Geborgenheit im Mutterschoß brutal entriss. Mit anderen Worten: Das Leben beginnt mit Schmerz.
Und, so viel ist sicher, auch die letzte Phase des Lebens hält Schmerz bereit, wenn wir zum Ende hin, früher oder später, krank werden, Hilfe brauchen, unsere Autonomie verlieren, oft auch unsere kognitiven Fähigkeiten: Erinnerungen, soziale Bezüge, adäquate emotionale Reaktionsfähigkeiten – all das jetzt so Selbstverständliche mag einst verloren sein. Am Ende dann, wenn wir in den letzten Zügen liegen, kämpfen wir um den Atem. Dann ist der Kampf vorbei. Alter, Krankheit, Tod – diese drei Leidensgründe bleiben, egal welche Fortschritte die Menschheit auch machen mag.
Und was liegt zwischen dem schmerzhaften Beginn und Ende? Für viele von uns hoffentlich schöne Momente, an die wir uns erinnern mögen. Über sie ist nicht viel zu sagen hier, sie machen uns ja keine Probleme. Doch die Dinge, die wehtun, hinterlassen ihre Spuren. Wenn wir die Verletzungen nicht immer wieder loslassen, und sei es auch nur ein Stück weit, werden die Spuren tiefer, sammeln sich die Schmerzen an und beginnen irgendwann, alle Erfahrung zu überschatten. Wie ein Schleier legen sie sich über unsere Augen und trüben unseren Blick auf die Welt: Wir werden unglücklich und blind für das Schöne.
Die „alten Yogis“ in Tibet sahen das ganz ähnlich. Unglück betrachteten sie als ein Ergebnis nicht losgelassenen Schmerzes: der riesige Haufen seelischen Mülls, der uns angespannt und traurig macht, unfähig, […]