Während eines Spazierganges in der Corona-Zeit, auf dem uns seine Frau, die Filmemacherin Anja Klug-Metzinger begleitete und der uns zum Nahe-Skywalk bei St. Johannisberg, nach Schloß Dhaun und schließlich zur Kyrburg bei Kirn führte, erzählte Thomas Metzinger von einem Treffen mit einem seiner Professoren, bei dem es um das Thema seiner Dissertation gehen sollte. Metzinger wunderte sich über die vielen Umzugskartons in dessen Büro, in die der Professor stapelweise seine Bibliothek zu verpacken schien. Ein Missverständnis. Der Professor hatte keineswegs vor, sich zu verändern. Vielmehr hatte er dem interessierten Studenten die grundlegende Literatur zusammengesucht, die dieser lesen sollte, bevor er noch einmal zum Gespräch über das Thema seiner Dissertation kommen konnte. Diese Anekdote machte den Abgrund deutlich, der Metzinger und mich, den drei Jahre Jüngeren trennte. Aber es gab auch Brücken. Metzinger ist nicht nur leidenschaftlich an – auch außergewöhnlichen – Bewusstseinszuständen interessiert und hat selbst jahrzehntelange Erfahrung in Meditation und luzidem Träumen. Er war, wie ich auch, vor Jahrzehnten Briefpartner des Schweizer Biologen Werner Zurfluh, der mit Quellen der Nacht 1987 ein Buch über außerkörperliche Erlebnisse veröffentlicht hatte. Auch dieser Tatsache verdankt sich unsere Begegnung.
Analytische Philosophie des Geistes, Kognitionswissenschaften und Neurowissenschaften zählen nicht zu den methodischen Zugängen, mit denen ich philosophisch groß geworden und in denen ich zuhause bin, auch, wenn es mit den deutschen Mystikern, Descartes, Brentano, Wittgenstein, Popper und östlichen Traditionen Schnittstellen gibt und Ulrich Ott mich vor Jahren mit seinen Büchern in die Neurowissenschaft von Meditation und Yoga eingeführt hat.
Der Egotunnel (2009), eine populärwissenschaftliche Einführung in die Bewusstseinsforschung, war daher auch keine ganz leichte, wenn auch faszinierende Lektüre. Kant, Hegel und Husserl spielen darin keine Rolle. Auch das Vokabular war mir zum Großteil fremd, das damit Gemeinte unvertraut. Aber das, worum es Metzinger mit diesen Methoden, Perspektiven und neuen begrifflichen Werkzeugen geht, ist dasselbe, was mich interessiert: Was ist Bewusstsein? Was ist Wirklichkeit? Wie sollen und wollen wir leben?
Mit Der Elefant und die Blinden hat Metzinger inzwischen ein weiteres umfangreiches populärwissenschaftliches Buch vorlegt, das den interessierten Leser auf die unabsehbare Reise der Bewusstseinsforschung mitnehmen soll. Das Besondere an diesem Buch besteht allerdings darin, dass neben Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft und Philosophie des Geistes der Phänomenologie des Bewusstseins ein ausgezeichneter Platz eingeräumt wird. Metzinger, der das „reine Bewusstsein“ oder „Gewahrsein“ für einen ausgezeichneten Kandidaten für ein Minimal-Modell (MPE) des Bewusstseins hält, hat in dem gleichnamigen Projekt eine Vielzahl von Praktizierenden aus 57 Ländern mit Hilfe eines umfangreichen Fragebogens und freier Schilderungen zu Wort kommen lassen. Ergänzt wird diese Phänomenologie durch semantische Analysen bedeutsamer philosophischer und theologischer Texte der Tradition in Ost und West. Die 92 Items des Fragebogens umkreisen das Phänomen „reines Bewusstsein“ und dienen der Strukturierung des mehr als 900 Seiten dicken Buches. Empirischen Schilderungen, die jeweils einen oder mehrere der sich immer wieder überschneidenden Aspekte der Erfahrung des reinen Gewahrseins in den Fokus stellen, folgen in jedem der 34 Kapitel kognitions-, neurowissenschaftliche und begriffliche Überlegungen, wobei Metzinger ausdrücklich betont, dass empirische Evidenz phänomenologisch zwar bedeutsam, für die Erkenntnis aber unzureichend ist. Nur durch redliche, gewissenhafte interdisziplinäre und interkulturelle Forschung können die empirischen Daten geordnet und verstanden werden, wobei Faktorenanalyse, mathematische Modellierung, Repräsentations- und Verarbeitungsmodelle eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Entwicklung neuer begrifflicher Werkzeuge und die Frage nach hirnphysiologischen Korrelaten und biologischen Grundlagen von Bewusstsein. Ein 16 Seiten umfassendes Glossar soll den mit der modernen Terminologie unvertrauten Leser beim Lesen und Verstehen unterstützen. Vorsichtshalber weist Metzinger aber auch darauf hin, dass jeder seinen eigenen Weg durch das umfangreiche Buch suchen und eigene Schwerpunkte setzen kann.
Die das Buch strukturierenden Aspekte reinen Gewahrseins stellen – nach William James radikal empiristischem Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung – eine beeindruckende Phänomenologie möglicher Bewusstseinszustände dar, die zugleich auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit, Machbarkeit und Wünschbarkeit hin untersucht werden.
Erklärtes Ziel einer „neuen Bewusstseinskultur“ ist es einerseits, bisher von der wissenschaftlichen Forschung unberücksichtigt gebliebene Phänomene wie luzide Träume und mystische Erfahrungen ernst zu nehmen, sie gleichzeitig aber von Dogmatismus, Ideologie und Metaphysik zu befreien, wobei „Metaphysik“ – christliche und buddhistische – in ihrer Vorläufigkeit begriffen und vor dem Hintergrund introspektiver Erfahrungen und Erkenntnisse anthropologisch interpretiert werden kann. Auch darin stimmen wir überein.
Allerdings ist auch das subjektive Empfinden von Gewissheit weder Garant von Wahrheit, noch von Erkenntnis. Metzinger macht es sich – und uns – maximal schwer und räumt wiederholt ein, dass auch er sich irren kann. Eines aber scheint ihm unzweifelhaft: Ohne hirnphysiologische Korrelate, ohne biologische Grundlagen ist Bewusstsein nicht möglich. Der biologische Tod stellt damit eine unüberwindliche Schranke dar. Alles andere wäre „Magie“. So radikal, innovativ, aufgeklärt und pragmatisch dieses Buch sich dem Rätsel „Bewusstsein“ auch zu nähern versucht, unterscheidet es sich in dieser Gewissheit doch von der ebenfalls interkulturell und interdisziplinär orientierten Nahtodforschung, die – wie Husserl – zumindest offenlässt, ob es Bewusstsein auch unabhängig vom Gehirn geben kann, dessen Funktion auch darin bestehen könnte, ähnlich wie ein Radioempfänger Bewusstsein in Raum-Zeit und Welt-Kategorien zu modulieren und zu transformieren.
Metzingers radikales Bewusstseinsprojekt zielt auf eine neue Bewusstseinskultur, eine Kultur der Achtsamkeit und Selbst-Fürsorge, die auch pädagogisch, kulturell, politisch und ethisch bedeutsam ist. Es fragt in einer beispiellosen Weltkrise, deren Ausgang bei redlicher Sichtweise inzwischen nicht mehr offen ist, nach wünschenswerten und unerwünschten Bewusstseinszuständen, rückt unser Verhältnis zu uns selbst, unseren Mitlebewesen und der Natur in den Mittelpunkt und öffnet den Horizont für künftige künstliche biotische und postbiotische Bewusstseins-Systeme. Aber auch, wenn das menschliche Genom inzwischen entschlüsselt wurde und die Genetik ungeahnte Möglichkeiten der Veränderung, Verlängerung und Zerstörung des Lebens eröffnet hat – das Geheimnis des Lebens entzieht sich weiter menschlichem Verständnis und der Machbarkeit. Warum sollte es mit dem Geheimnis des Bewusstseins anders sein?
Zum Abschluss unserer Begegnung schenkte Anja Krug-Metzinger mir einige ihrer Filme, darunter Schule der Achtsamkeit und ich überreichte den beiden einige meiner Bücher. Unser Gespräch haben wir seitdem nicht wiederaufgenommen, auch wenn wir beim Blick von der Kyrburg auf das nahe gelegene Schloss Wartenstein ein lohnendes Ziel für künftige Unternehmungen in der Provinz ins Auge gefasst hatten. Die beiden wohnen nur wenige Dörfer von uns entfernt.
Thomas Metzinger: Der Elefant und die Blinden. Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit. Berlin Verlag, 2023.