Die Wurzeln der Achtsamkeitspraxis gehen auf Siddharta Gautama, Buddha zurück. Er erkannte, dass das menschliche Leben dem Leiden unterliegt. Leiden deshalb, weil wir nicht anerkennen wollen, dass wir krank werden, alt werden und sterben. Dies ist allerdings keine pessimistische Haltung, sondern lädt uns ein, jeden Augenblick unseres Daseins bewusst als ein großes Geschenk zu erfahren.
Als der buddhistische Zen-Lehrer Suzuki Roshi gefragt wurde, wie er die Lehre des Buddhismus am besten in einem Satz beschreiben würde, meinte er: „Nicht immer so.“ Verständlicher ausgedrückt könnte dies heißen: „Alles ist vergänglich.“ Damit ist wirklich ALLES gemeint. Erstaunlicherweise haben wir als Menschen jedoch die Tendenz, dass wir glauben, dass alles außer wir selbst vergänglich ist. Und häufig sind Menschen dann erschrocken, entsetzt und überfordert, wenn sie eine Diagnose einer unheilbaren Erkrankung erhalten. Es gibt sogar Menschen, die es selbst im hohen Alter von 80 oder 90 Jahren nicht ertragen können, wenn man sie auf ihren eigenen Tod anspricht und sie bittet, sich diesbezüglich Gedanken zu machen.
Spirituelle Traditionen und der Tod
Spirituelle Traditionen im Osten haben sich in Büchern wie der Bhagavad Gita, dem Tibetischen Buch vom Leben und Sterben bewusst sehr intensiv mit dem Sterben auseinandergesetzt. Der Sinn war, sich des eigenen Daseins bewusst zu werden und es als eine Chance zu sehen, an der eigenen spirituellen Entwicklung zu arbeiten, anstatt sich nur auf die materiellen Verdienste auszurichten.
Die eigenen Werte vs. die Maßstäbe der Gesellschaft
Auch bekannte Autoren haben ihre eigenen Erfahrungen mit dem Tod niedergeschrieben und deutlich gemacht, dass Reichtum im Angesicht des Todes nicht glücklich macht: Leo Tolstoi zum Beispiel beschreibt in seinem Buch Meine Beichte (1882), dass ihm im Alter von einundfünfzig Jahren als weltberühmter und reich gewordener Autor von Krieg und Frieden und Anna Karenina bewusst wurde, dass er sich nicht an seinen eigenen Werten und Gottes Geboten orientiert hatte. Stattdessen hatte er nach den Maßstäben der Gesellschaft gelebt, wo es eher darum ging, stärker, berühmter und reicher als andere zu werden.
In Tolstois Kreisen waren Werte wie Ehrgeiz, Machtverliebheit, Gier, Lüsternheit, Hochmut, Zorn und Rachsucht durchaus anerkannt. Werte, die ihm im Angesicht seines Todes als ethischer Richtwert jedoch als sehr zweifelhaft erschienen. Er konnte sich die Frage, was er von all dem Ruhm als Schriftsteller hätte, nicht selbst beantworten. Die Antwort darauf gab ihm Gott. Und so ist er – wie viele andere Menschen – ein gutes Beispiel dafür, dass das Bewusstsein über den eigenen Tod zu einem sinnerfüllterem Leben führen kann.
Das Bewusstsein über den eigenen Tod
Das Bewusstsein über den Tod kann auch Ehrlichkeit in Beziehungen bringen: Je berühmter ein Mensch wird, desto weniger wird er seiner Selbst wegen geliebt. Sind wir gesellschaftlich gut aufgestellt, haben wir viele Freunde, und es hat den Anschein, dass es uns gut gehe. Aber wie viel Unterstützung erhalten wir im Angesicht des Todes wirklich? Mein eigener Lebensgefährte konnte sich vor Einladungen und Freundesbekundungen nicht retten, als er bei guter Gesundheit war und in einer führenden Position arbeitete. Jedoch erlebte er die letzten Monate seines Lebens im Kreise weniger, sehr enger Freunde. So etwas kann auf den letzten Metern des Lebens eine sehr ernüchternde und schmerzvolle Erfahrung sein.
Die Kostbarkeit des Augenblicks
Zeitgenössische Achtsamkeitsschulen weisen uns auf die Kostbarkeit des Augenblicks hin, indem sie uns einladen, jeden Bissen achtsam zu essen, jeden Schluck Kaffee oder Tee achtsam zu trinken oder jeden einzelnen Schritt achtsam zu geben. Sie verweisen dabei nicht auf den unausweichlichen Tod, sondern stattdessen eher auf die Kostbarkeit des Moments.
Auch wenn man Achtsamkeit heutzutage vor allem auch dazu verwendet, um jung und dynamisch zu bleiben und die eigene Effizienz zu steigern, so geht es im Kern der ursprünglichen Achtsamkeit eher um die Bewusstwerdung der eigenen Vergänglichkeit. So verstand Buddha die Anwendung der Achtsamkeit in ihren Anfängen. Meiner Ansicht nach tun wir gut daran, uns wieder auf die Wurzeln der Achtsamkeit im buddhistischen Sinne zu berufen. Dann erkennen wir die Kostbarkeit des Lebens noch einmal mehr an – und können jeden Tag als ein großes Geschenk des Lebens an uns erkennen.
Carpe diem: Nutze den Tag
Stelle dir vor, du hättest nur noch diesen heutigen Tag. Um 24 Uhr müssest du deinen Körper verlassen und sterben:
- Was gäbe es noch zu regeln?
- Wen möchtest du um Verzeihung bitten?
- Wem würdest du verzeihen?
- Welchen Menschen würdest du deine Liebe gestehen?
- Was würdest du unbedingt noch erleben wollen?
Stell dir vor, du hättest noch eine Woche zu leben:
- Was würdest du in dieser Woche erleben wollen?
- Mit welchen Menschen möchtest du gerne Zeit verbringen?
- Was würdest du auf keinen Fall mehr tun wollen?
Stelle dir vor, du hättest noch ein ganzes Jahr zu leben:
- Welche Wünsche würdest du dir erfüllen?
- Welche Berge möchtest du noch besteigen?
- Welche Klassiker aus der Yogaphilosophie hast du immer noch nicht gelesen?
- Von wem oder was würdest du dich trennen?
- Wenn oder was würdest du in dein Leben einladen?
Nutze die Zeit, denn es ist DEINE Zeit. Dein Geschenk des Lebens an dich.
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Alice Huth: Das große Buch der Achtsamkeit. Die schönsten Texte zum Innehalten. FISCHER Taschenbuch 2018.