„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“, sagt der Mythos in den alten Schriften. „Am Anfang war der Knall“, sagt die Wissenschaft in den neuen Schriften. Wer von beiden muss wohl enttäuscht werden?
Schließt man die Augen und lässt sich einmal ganz unwissenschaftlich das deutsche Wort „Wort“ köstlich auf der Zunge zergehen, so schmeckt man in diesem möglicherweise noch andere Sinnbegriffe heraus, wie beispielsweise „Ort“, oder aus diesem wiederum „Erd“, oder gar „Ordnung“? Bei noch gründlicherem Schmecken offenbart sich vielleicht auch der Sinn von „Werden“ oder von „Geworden“?
All diese Begriffe tragen untrüglich die Sinnhaftigkeit einer manifestierenden Kraft in sich, eines geist-magisch schöpferischen Wesens, das bis in die Welt der Festkörper hinein zu erschaffen vermag. Wir können hier also einer feinen, machtvollen Energielinie folgen, die aus den Tiefen des Allgöttlichen separierend entspringt, und sich schließlich in den dualen Ordnungen des Zeitlichen niederlässt, wozu wir „Leben“ sagen.
Auch das deutsche Wort „Sprache“ hat es in sich. Die Lautfolge „spr“ bedeutet so viel wie „durch Lostrennung schaffen“ (von lat. „separare“ = trennen), und der Laut „cha“ trug ursprünglich den Sinn von „Kraft als Trägerin einer geistigen Idee“.
Sprache vermag also unter Verwendung von Worten durch einen geist-magisch schöpferischen Prozess zu erschaffen, vermag aus dem namenlosen Allgöttlichen Namen und Begriffe zu schöpfen, die in der Folge dem Menschen sein „Begreifen“ und seine „Ordnung“, oder aber sein „Nicht-Begreifen“ und seine „Unordnung“, in seiner Lebenswelt ermöglichen. An dieser Stelle wird deutlich, welche Verantwortung jeder Einzelne von uns trägt, bezüglich dessen, was er denkt oder spricht: Jeder wird dadurch zum Erschaffenden seiner eigenen Welt.
Die alte Weisheit, dass die Sprache dem Angesprochenen gehört und nicht dem Sprechenden, unterstreicht noch einmal mehr die Bedeutung und den achtsamen Umgang mit Worten. Wenn Worte unachtsam gewählt werden, ihr Sinn nicht begriffen oder ihre Form verstümmelt, verfälscht oder zerstört wird, werden wir durch ihren Gebrauch unweigerlich Sinnloses, Unwahres und auch Zerstörerisches ansprechen und in unsere Welt rufen.
Im Yoga weiß man seit alters her von dieser Kraft und hat deshalb Schutz- und Heilworte entwickelt, die die Grundlage des Mantra-Yoga bilden. Durch stilles, lautes oder singendes Sprechen rufen wir die den Worten zugrundeliegenden Kräfte in unser Leben und können dadurch Schutz und Heilung erfahren. Indem wir dies erfahren, kann im Prinzip jedes Wort unserer Sprache zu einem Mantra werden, wenn es von Achtsamkeit und Bewusstsein durchdrungen ist. Liegt ein solches Wort einmal schmelzend auf unserer Zunge, so kann man – ja muss man sogar – die überaus schätzenswerte Arbeit der unzähligen Philologen und Etymologen – hinter sich lassen. Im Einspeicheln, Auflösen und Zurückverfolgen eines Wortes bis zu seinem Ursprung sind allein unser Empfinden und unsere freudige Lust an der Rückverbindung zur allgöttlichen Quelle gefragt.
Dies ist der erotische Augenblick, in dem Sprache, Küssen, Zeugen und Empfängnis eins werden. Sowohl „Sprache“ als auch „Zunge“ heißen im Lateinischen „lingua“. In der vedischen Anschauung Indiens existiert das hierzu verwandte Wort „linga“ – das Sinnbild des Zeugungsprinzips in der Natur. Linga wird in Indien oft als Phallus oder Säule dargestellt, als „Shivalinga“, die erotische Zeugungskraft des Göttlichen – ein Ursymbol göttlicher, schöpferischer Kraft. Somit trägt das Sprachorgan Zunge die Gestalt der phallischen Zeugungskraft. Das Wortgezeugte wird empfangen von „Yoni“, dem göttlichen Schoß, der Vulva, dem Raum, in der Gestalt der Mundhöhle und insbesondere des Gaumens. (Das deutsche Wort „Gaumen“ hat übrigens eine Verbindung zum altgriechischen Wort „chaos“ = leerer Raum, Unordnung.) Dort, im sprachbildenden Spiel von Zunge und Gaumen, wird mit jedem Wort, mit jeder Berührung, mit jedem Klang aus der Leere, dem Namenlosen, dem Ungeordneten ein neues Universum gezeugt und eine neue Ordnung, eine neue Welt empfangen und erschaffen. Dies kann eine schöne oder eine hässliche Welt sein, eine helle oder dunkle, eine Welt voller Achtsamkeit, Liebe und Stille, oder eine Welt voller Brutalität, wo es so richtig knallt. Aber erinnern wir uns: Die Sprache gehört dem Angesprochenen, und das Angesprochene kommt zu uns, wenn wir es wahrhaftig anzurufen vermögen.