Brauchen wir im Yoga den „göttlichen Meister”?Immer wieder wird in den alten Texten die besondere Bedeutung des Yogameisters betont. Der Schüler hat hiernach der Lehre seines als Guru bezeichneten Meisters uneingeschränkt zu gehorchen und sein ganzes Leben auf ihn auszurichten. Andere halten kräftig dagegen. Allein schon der Begriff „Guru“ ist für sie negativ belegt. Die zahlreichen Fälle sexuellen und anderweitigen Missbrauchs in der heutigen Yogaszene sehen sie als Beleg dafür, dass das alte Konzept, das in den kleinen Männerzirkeln des traditionellen Indien vielleicht noch gepflegt werden konnte, heute nicht mehr funktioniert. Der moderne Mensch habe sich in den letzten Jahrhunderten mühsam aus der kirchlich wie staatlich verordneten Unmündigkeit befreit und sollte sich jetzt nicht wieder einer neuen, göttlichen Autorität unterwerfen. Brauchen wir im Yoga wirklich noch den göttlichen Meister?
Der heutige Gesundheitsyoga
Die Antwort auf diese Frage hängt zunächst davon ab, was man unter Yoga versteht. Geht es beim Yoga ausschließlich um körperliche Fitness, so ist mit Sicherheit kein göttlicher Meister notwendig. Wenn in unserem heutigen Gesundheitsyoga das Ziel des Übens darin besteht, dass Rückenschmerzen besser werden, sind andere Kriterien an einen guten Yogalehrer anzulegen. Man sollte nicht an einen Lehrer geraten, dessen Fähigkeiten ausschließlich auf einen vierwöchigen Crashkurs gründen. Eine solide Ausbildung nach Richtlinien eines anerkannten Yogaverbandes bildet hier die beste Voraussetzung für die gesuchte Kompetenz. Ganz anders ist allerdings die Frage nach dem guten Yogameister zu beantworten, wenn Yoga über den Gesundheitsbereich hinausweist, wenn es um Yoga als Lebensweg, vielleicht sogar um einen spirituellen Weg geht.
Gehorsam gegenüber dem Lehrer in der Tradition
Vielleicht sollte man doch einmal genauer hinschauen, um zu verstehen, was man im alten Indien unter dem Guru-Shishya-Modell, das heißt, unter dem traditionellen Verhältnis zwischen dem Yogameister und seinem Schüler verstand. Bis zum 19. Jahrhundert gab es in Indien weder Yogakurse noch öffentlich zugängliche Yogalehrbücher. Wer Yoga erlernen wollte, musste zu einem Meister in die Schulung gehen und wurde oft sogar für die Zeit des Lernens in dessen Ashram oder Familie aufgenommen. Lehrtexte und Übungsanweisungen wurden vom Lehrer an seine Schüler persönlich übermittelt. Dabei war es für den Schüler zentral, dass sein Meister genau das befolgte, was sein eigener Meister ihn gelehrt hatte, der wiederum alles von seinem Meister übernommen hatte, bis hin zum Ursprung […]