Der fünfte Aspekt in Patanjalis Yoga-Sutra heißt Pratyahara. Gemeint ist ein bewusster Rückzug der Sinne. Leichter gesagt als getan in einer Zeit, in der wir gerade im Berufsleben mittlerweile rund um die Uhr erreichbar sind. Umso wichtiger wird aber genau deshalb der Rückzug der Sinne bzw. die Beherrschung der Sinne.
Endlich klar sehen
Dieser Aspekt spielt eben deshalb eine so wichtige Rolle, weil wir sehr die Tendenz dazu haben, uns in sinnlichen Eindrücken zu verlieren. Pratyahara hilft dir dabei, nicht auf jeden äußeren Reiz unmittelbar zu reagieren. An dieser Stelle eignet sich zur Veranschaulichung auch ein Bild aus dem Buddhismus, in dem der Geist gerne mit einem See nach einem Sturm verglichen wird: Das Wasser ist aufgewühlt und du kannst nicht bis auf den Grund schauen. Solange du deine Sinne nicht beherrscht, wirkt jeder äußere Reiz auf deinen Geist wie eine Böe auf die Oberfläche des Sees. Umgekehrt wirst du durch den Rückzug der Sinne allmählich den Grund des Sees erkennen. Dass bedeutet, dass du vielleicht zuerst ahnst, dann aber unmittelbar erfährst, dass das wahre Glück nicht in der Befriedigung durch äußere Sinneseindrücke liegt, sondern nur in dir selbst zu finden ist. Mit zunehmender Übung wirst du realisieren, dass du Sinne hast, aber nicht diese Sinne bist.
Vielleicht bist auch du, wie viele andere Menschen, in deinem Berufsleben einer Vielzahl von Sinneseindrücken ausgesetzt: Etwa dem Telefon, dem Handy, den Medien, den Meldungen, den Informationen und der Werbung usw. Vielleicht wirken darüber hinaus auch noch viele andere Sinneseindrücke auf dich ein. Zum Beispiel wenn du in einem Großraumbüro arbeitest, wo den ganzen Tag verschiedene Telefone klingeln, Menschen ein- und ausgehen, miteinander reden etc. Aber auch Menschen, die in der Gastronomie tätig sind, im Supermarkt an der Kasse sitzen oder als Arzt im Dienst sind, sind dem Ansturm unterschiedlichster Sinneseindrücke ausgesetzt. Und selbst als Yogalehrer ist es gut, wenn du dich immer wieder zurückziehst, um all die Eindrücke zu verarbeiten, die du aufnimmst.
Zwischen Öffnung und Rückzug
Da aber auch du dich wahrscheinlich nicht immer in dem Maß zurückziehen kannst, wie es dir lieb ist, ist es wichtig zu lernen, in einer ausgewogenen Balance zwischen Rückzug der Sinne und Öffnung für die Welt zu leben. Denn schließlich ist das Leben selbst auch ein Wechsel zwischen zwei Polen: Tag und Nacht, Ruhe und Aktivität, Zusammenziehen und Ausdehnung. Auch die Aufmerksamkeit ist einmal nach innen und einmal nach außen gerichtet. Dadurch, dass wir aber in einer so stark reizüberfluteten Welt leben, in der wir über die Gesetzmäßigkeiten der Natur hinweggehen, wie z.B. bei der Schichtarbeit, ist ein natürliche Wechsel von Ruhe und Aktivität, Rückzug und Öffnung nicht mehr so gegeben, wie er uns gut tun würde. Dass ein Leben gegen die natürlichen Rhythmen und Zyklen sich irgendwann negativ bemerkbar macht, zeigt sich auch an vielen körperlichen und psychischen Zivilisationskrankheiten. Burnout ist z.B. nur ein Zeichen davon.
Übungen, bei denen die Sinne einen Rückzug erfahren, sind für die Regeneration daher enorm wichtig.
Hier ein paar Beispiele:
Stellung des Kindes
Die folgende Übung erlaubt dir, einen wundervollen ersten Geschmack davon zu erhalten, wie es sich anfühlt, die Reizüberflutung bewusst zu durchbrechen und zu entspannen. Du kannst sie in deine Yogapraxis einbinden oder am Ende des Tages vor dem Schlafengehen machen. Einige Yogalehrerinnen, die viel auf Reisen sind, machen diese Übung, wenn sie mit Jetlag in einem anderen Land ankommen.
Anleitung
Du befindest dich im Kniestand. Der Oberkörper ist gerade, der Kopf in der Verlängerung der Wirbelsäule. Lass jetzt die Fersen auseinanderfallen, sodass sich die großen Zehen berühren. Setz dich nun auf deine Füße in den Fersensitz.
Führe sanft die Stirn zum Boden. Lege die Arme neben dem Körper ab.
Atme mehrmals in dieser Haltung tief ein und aus. Lenke den Atem in den Becken- und Bauchraum. Lass dich dabei mit jeder Ausamtung tiefer auf die Unterlage sinken und nimm ganz bewusst wahr, wie du dich zurückziehst, sich deine Sinne entspannen und du mit jedem Atemzug mehr und mehr bei dir selbst ankommst.
Offline sein
Nutze deine Mittagspause ganz bewusst um Dich von äußeren Reizen zurückzuziehen. Mache deinen PC, dein ipad und dein Handy aus und verbringe diese Zeit ganz bewusst, indem du dich von möglichst vielen äußeren Reizen zurückziehst.
Wie geht es dir damit? Was verändert sich dadurch in deiner Wahrnehmung?
Setze diese Übung an einem Abend in der Woche fort. Statt vor dem PC zu sitzen, meditiere oder mache Yoga. Sei für dich da. Sei mit dir da. Mache Notizen und schreibe auf, wie es dir auf den drei verschiedenen Ebenen geht: Wie erlebst du während dieser Zeit deinen Körper, deine Gefühle und deine Gedanken?
Weite diese Übung auf einen Samstag oder einen Sonntag aus. Sei offline für die Außenwelt und online für dich selbst und für das Göttliche. Geh nach innen. Schau, welche Verbindungen du hier aufbauen kannst.