Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass auch du Mitglied bist ins Deutschlands größtem Club. Er hat geschätzt 60 bis 70 Millionen Mitglieder und jeder, der überkritisch, unfreundlich oder antreiberisch mit sich umgeht, ist quasi automatisch aufgenommen. Es ist der Club der inneren Kritiker.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, heißt es. Doch würdest du wirklich mit einem guten, geliebten Freund wirklich jemals so sprechen wie mit dir? „Stell dich doch nicht so an!“, „Das war ja klar, dass du das wieder vermasselst!“ „Kein Wunder hast du unansehnliche Speckröllchen – du warst ja schon wieder nicht regelmäßig joggen!“.
Es ist nie gut genug
In den meisten von uns wohnt ein erbarmungsloser Dauernörgler, der uns bewertet, vergleicht, mit „sollte“ und „müsste“-Sätzen bombardiert und uns einredet, dass wir uns dringend verändern müssen, weil wir so wie wir sind, nicht bleiben können. Unsere Hoffnung lautet: Wenn wir unsere Fehler und Schwächen endlich im Griff haben, dann wird er endlich Ruhe geben. Aber mal ehrlich – kennst du irgendjemanden zu dem der Dauernörgler irgendwann gesagt hat: „Genug verändert. Jetzt bist du richtig prima und brauchst mich nicht mehr. Ich geh dann mal.“
Wir aber können wir sinnvoll mit diesen Anteilen von uns, die uns das Leben schwer und manche auch krank machen, umgehen? Studien legen nahe, dass das Beste, was wir tun können ist, Mitgefühl für uns selbst zu kultivieren. Und zwar für alle unsere inneren Anteile – auch für unseren Dauernörgler. Wenn wir uns aggressiv gegen ihn richten und ihn „wegmachen“ wollen, dann macht ihn dieser Widerstand nur stärker. Zudem ist jeder Kampf gegen einen unserer inneren Anteile immer auch ein Kampf gegen uns selbst.
Gedanken sind keine Tatsachen
Es geht also weniger darum, die mäkelige innere Dauerberieselung abstellen zu wollen, sondern ihr nicht mehr zu glauben. Denn das Gebrabbel, das unser Gehirn da produziert, ist nicht die Wahrheit, sondern häufig ein altes „Radioprogramm“, in das die Botschaften unserer Eltern und verschiedener Bezugspersonen eingespeist wurden. Und wenn wir als Kinder häufig kritisiert oder bewertet wurden, dann leiert der Moderator eben immer weiter dieses Programm herunter.
Auch Schönfärben unserer Gedanken hat sich Studien zufolge eher negative als positive Effekte. Eine Untersuchung in Kanada hat sogar belegt, dass das Vorsagen von positiven Affirmationen nur bei jenen gewirkt hat, die ohnehin bereits überzeugt waren, dass das, was sie da sprechen wahr ist. Bei jenen, die vom Gegenteil überzeugt waren führte die Diskrepanz zwischen dem Satz und ihrer inneren Grundüberzeugung nur zu noch mehr Selbstentwertung.
Selbstmitgefühl kann man lernen
Was also tun? Die klassischen Schritte bei der Kultivierung von Selbstmitgefühl sind:
1. Nimm achtsam wahr, was du fühlst oder denkst. Versuche offen zu bleiben und nichts zur Seite zu drängen.
2. Sei dir dessen bewusst, dass alle Menschen leiden und du mit deiner Erfahrung nicht alleine bist. Unser Schmerz verbindet uns.
3. Verurteile dich nicht für dein Erleben und gib dir nicht die Schuld. Denn im Gegensatz zu dem was viele von uns glauben: Du bist nicht schuld an dem, was du denkst und fühlst. Gedanken und Gefühle geschehen, wir machen sie nicht. Aber wir können entscheiden, wie wir darauf reagieren. Darin liegt unsere Freiheit und Chance zum Wachstum.
Eine innere Haltung, kein Wellness-Programm
Wichtig ist zu verstehen, dass es sich bei Selbstmitgefühl um eine innere Haltung handelt und nicht darum geht, etwas Bestimmtes zu tun, z.B. täglich Yoga zu machen. Denn das Ziel ist ja, unsere individuellen Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen, uns liebevoll und fürsorglich uns selbst zuzuwenden. Wenn wir täglich Yoga praktizieren, damit wir endlich so beweglich/schlank/besser/erleuchtet/mitfühlend werden, wie wir das sein „sollten“ – dann ist das eher kontraproduktiv und nicht von einer akzeptierenden Haltung getragen. Wenn wir jeden Tag auf der Matte erkunden, was wir jetzt gerade brauchen und unserem Körper und unserer Seele Gutes tun können, dann mag es die richtige Strategie für mehr Selbstmitgefühl sein.
Mitgefühl ist mit bestimmten Empfindungen verbunden – meistens sind es die drei Ws:
- Weichheit
- Weite
- Wärme
Nach: Andreas Knuf: Sei nicht so hart zu dir selbst – siehe Literaturtipp am Ende
Wie sieht also der erste Schritt Richtung mehr Selbstmitgefühl aus? Andreas Knuf, Psychologe, Psychotherapeut und Autor, empfiehlt folgende einfache Übung: Stelle dir immer wieder tagsüber die Frage „Verurteile ich mich gerade selbst? Wenn ja, wofür?“ Lass dir Zeit, eine Antwort auftauchen zu lassen – und zwar nicht nur in deinem Kopf, sondern auch in deinem Körper. Vielleicht erkennst du irgendwann sogar ein gewisses Muster und findest heraus ob du es eher mit einem gnadenlosen inneren Richter, einem leistungsorientierten Antreiber oder einem Rechtmacher, der allen gefallen will, zu tun hast.
Für manche kann es sogar hilfreich sein, ihrem Dauernörgler einen Namen oder eine Form (z.B. eine Puppe oder Figur) zu geben. So gewinnt man etwas inneren Abstand. Wichtig ist, dich nicht wieder dafür zu bewerten oder zu verurteilen, dass du dich schon wieder bewertest oder verurteilst. Denn Du kannst nie nur gegen einen Teil von dir aggressiv werden, wütend oder abwertend sein – es trifft immer dich als ganzen Menschen und treibt weiter den alten, destruktiven Kreislauf an.
Akzeptanz reicht völlig
Und keine Sorge: Du musst gar nicht lernen, alles an dir zu lieben. Viele von uns setzen sich mit dem Anspruch unter Druck, dass ihre Selbstliebe irgendwann alle Aspekte ihrer Persönlichkeit einschließen muss – und sind frustriert darüber, dass es ihnen nicht gelingt, alles an sich toll zu finden. Wir müssen unsere Gier, Eifersucht, Ungeduld nicht gut finden. Auch nicht unser Übergewicht oder ungesunde Gewohnheiten. Wir werden (ohne zum Narzisst zu mutieren) wahrscheinlich nicht zu dem Punkt kommen an dem wir aus Überzeugung sagen: „Alles an mir ist wundervoll.“ Aber wir können vielleicht irgendwann sagen: „Ich mag nicht alles an mir. Aber das ist so in Ordnung. Jeder Mensch hat Fehler. Es ist nicht meine Schuld. Und trotzdem kann ich versuchen, das zu ändern, was für mich hinderlich oder ungesund ist.“
Mehr zum Thema Selbstmitgefühl erfahren:
Andreas Knuf: Sei nicht so hart zu dir selbst – Selbstmitgefühl in guten und in miesen Zeiten, Kösel Verlag 2016, EUR 14,99, ISBN: 978-3-466-34622-6