Alle reden von Selbsterkenntnis: „Ergründe, wer du in Wahrheit bist“, „Werde dir deines göttlichen Wesenkerns bewusst“. Schon das Orakel von Delphi gab als wichtigste Botschaft den Rat „Erkenne dich selbst“.
Zuallererst gilt es, die eigene göttliche Essenz, die unsterbliche Seele zu erkennen, zum anderen sollen auf dem spirituellen Weg aber auch die verschiedenen Seiten der um diesen Kern herum gebildeten eigenen Persönlichkeit, inklusive der Schattenanteile, erkannt und integriert werden. Während gegen all dies nichts einzuwenden ist, fehlt mir dabei oft der meines Erachtens ebenso wichtige Fokus auf das Erkennen des Gegenübers. Sicherlich, wir sprechen im Yoga (und vor anderen spirituellen Hintergründen) oft vom Bewusstsein der Verbundenheit und von der Erkenntnis, dass alle aus derselben Quelle stammen und durch das ihnen innewohnende göttliche Licht letztendlich eine Einheit bilden. Aber erkennen wir andere in ihrer fabelhaften Ganzheit und in ihrer Einzigartigkeit – als göttliche Seelen mit einer unverwechselbaren Ausformung, in all ihrer Verletzlichkeit und mit all ihren „Macken“, aber auch mit ihren schillernden Glanzlichtern, mit all den subtilen Ausdrucksformen dessen, was sie ausmacht? Sehen wir sie wirklich? Verstehen wir, wer sie sind?
Möglicherweise ist es einfach nur so selbstverständlich, andere wirklich jenseits der Oberfläche wahrzunehmen, dass wir es deshalb in spirituell orientierten Diskussionen selten thematisieren. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass es vielmehr oft zu kurz kommt, weil wir so sehr mit uns selbst beschäftigt sind.
Seelen heilen sich gegenseitig
Selbsterkenntnis ist heilsam, darüber wurde schon viel gesagt und geschrieben. Aber Seelen heilen einander auch gegenseitig und geben sich durch ihren Austausch, durch das sich in der Dualität entfaltende „Spiel“, den Tanz miteinander etwas Kostbares, das sich die Seele allein vielleicht auch in der tiefsten Selbstschau nicht zu geben vermag.
Zweifellos spiegelt mir die andere Person auch meine eigene Göttlichkeit, und die Liebe, Zuneigung oder Wertschätzung, die ich für einen anderen empfinde, fällt zugleich auf mich selbst zurück – ähnlich wie die Liebe oder Bewunderung, die jemand mir entgegenbringt, mir auch meine eigenes Licht aufzeigt, das der Andere sieht und liebt. Dennoch ist dieses tiefe Sehen und Gesehenwerden, dieses echte gegenseitige Wahrnehmen viel mehr als eine bloße Spiegelung, die mangelnde Fähigkeit zur Selbstliebe kompensieren muss, und vielleicht die höchste Form der Heilung, die man jemandem zuteil werden lassen kann.
Das Geheimnis des Anderen erkennen zu wollen, ist etwas Wunderschönes, ein Wert in sich. Nicht nur, aber ganz besonders kommt diese ultimative Form der Aufmerksamkeit in Liebesbeziehungen vor – sei es nun im Rahmen einer festen Partnerschaft bzw. einer Ehe oder auch in kurzen, nichtsdestotrotz intensiven und berührenden Begegnungen.
A propos Liebe: Viele Menschen, die den spirituellen Weg beschreiten, sind der Meinung, dass die Liebe zu einem Menschen nur eine ins Konkrete heruntergebrochene Variante sei, das Göttliche zu lieben – einfacher und vor allem wichtig für jene, die zu einer Liebe zum Abstrakten nicht fähig sind. Gewiss liebt man in Form des Gegenübers in der Tat auch das Göttliche – dass dies einfacher ist als die direkte Liebe zu Quelle, möchte ich jedoch bezweifeln. Das Göttliche an sich zu lieben, ist leicht. Einen Menschen, ein Lebewesen zu lieben, erfordert mehr Mut. Schon deshalb, weil man den Anderen in seiner jetzigen Daseinsform eines Tages verlieren wird. Dieser Verlust ist schmerzhaft, auch wenn man sich noch so sehr mit dem Thema Loslassen und Vergänglichkeit einerseits und der Unsterblichkeit der Seele andererseits auseinandergesetzt hat.
Aber was wäre, wenn jene, die sich durch das Erkennen anderer wahrhaft zu ihnen in Beziehung gesetzt haben, jenseits des Todes, dort „drüben“, wo auf manche der formlose Samadhi wartet, den betreffenden Individualseelen wiederbegegnen, wie man es aus vielen Berichten von Jenseitsmedien oder von Menschen mit Nahtoderlebnissen kennt? Für mich eine einleuchtende Möglichkeit und eine Alternative, der ich jederzeit den Vorzug geben würde.
Doch zurück zum Thema Erkennen des Anderen in der (romantischen) Liebe. Wenn es in Bibelübersetzungen heißt: „Und Adam erkannte seine Frau Eva…“ (1. Buch Mose, 4:1) oder „Und Kain erkannte seine Frau…“ (1. Buch Mose, 4:17), dann deutet das als „erkennen“ übersetzte Wort auf die sexuelle Vereinigung hin, das geht aus dem Kontext klar hervor. Doch ist es nicht tatsächlich auch ein Erkennen, das in diesem Akt geschehen sollte? Und kann man gar ein Leben miteinander teilen, ohne danach zu fragen, wer der Andere wirklich ist?
Auch Freunde können einander erkennen, und das beginnt schon damit, wenn du bemerkst, auf welch unnachahmliche Weise sich deine beste Freundin eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, wie sie bei bestimmten Themen die Nase kräuselt und verlegen wird, oder dass dein guter Freund nie die kindliche Begeisterung aus seinen Augen verloren hat und wie stark er ist, wenn es im Leben stürmisch wird.
Tiere sind, unbehaftet von Selbstreflexion, fest in unmittelbarer Selbsterkenntnis verankert und werden vom Göttlichen zutiefst geliebt – und doch erweist man auch ihnen einen Dienst, wenn man sie wahrhaft sieht. Geschieht dies, entwickeln sich zwischen Mensch und Tier unzerstörbare Bindungen voller Loyalität und Liebe, die ihresgleichen suchen.
Die Sehnsucht, erkannt zu werden
Auch wenn ein jeder dank seines göttlichen Funkens potenziell alle Farben in sich birgt (genau wie das Weißlicht das ganze Spektrum des Regenbogens vereint), so treten sie doch in jedem anders zum Vorschein – jeder von uns trägt andere Züge, hat dieser Welt durch sein Dasein etwas ganz Besonderes zu geben und sollte in dieser individuellen Schönheit und mit seinen einzigartigen Qualitäten gesehen und gewürdigt werden: nicht allein vom Göttlichen, das sich durch all seine Manifestationen selbst erkennt, sondern auch durch die Mitgeschöpfe, die diesen Prozess sozusagen auf der Mikroebene – welche aber nicht von geringerer Bedeutung ist – ebenfalls vollziehen.
„Erkenne dich selbst… und erkenne dein Gegenüber“, ist ein Credo, das uns dieses Leben meines Erachtens in einer größeren Fülle leben lässt als das reine Streben nach Selbsterkenntnis, das uns oft eher von anderen wegführt. Jeder von uns trägt die Sehnsucht in sich, erkannt zu werden – von einem Gegenüber. Ob uns dieses Glück widerfährt, haben wir vielleicht nicht in der Hand. Doch wir können selbst damit anfangen, andere zu erkennen.