Als er noch stehen durfte in seiner ganzen Pracht, der paradiesische Baum der Erkenntnis, und seine göttlichen Früchte die Ehre und Wertschätzung erfuhren, die ihnen gebührten, und sie gekostet und vernascht werden durften, von jedem Menschenwesen, das sich danach sehnte – immer unter der weisen Führung der kosmischen Schlangendrachin, „Kundalini-Shakti“ genannt, – als dies alles noch geschehen durfte, gab es möglicherweise die Not und Notwendigkeit, an jenen geheimnisvollen Energiegebilden zu arbeiten, die die Inder „Chakras“ nennen, noch nicht. In dieser Anschauung steht jede Frucht am Baum der Erkenntnis für ein Chakra. Chakras sind in der yogischen Lehre als wirbelnde Energiezentren bekannt, die im feineren, den Menschen durchdringenden und umgebenden Astrallichtkörper beheimatet sind, und sich dem äußerlich schauenden Auge und Verstand durch Unsichtbarkeit entziehen.
Und dennoch sind sie entsprechend der yogischen Anschauungen und der Anschauung derer, die sie durch Naschen vom Baum der Erkenntnis erfahren und wahrnehmen können, als Bauprinzip des Wirklichen vorhanden. Man kann sie als fruchtvolle, in verschiedenen Farbtönen schimmernde Blütengebilde erfahren. Sie sind unter anderem Wohnstätte von Göttern, Tierwesen, Klängen und Lautsilben, die ihre Kräfte durch feine Energiekanäle in den grobstofflichen Leib entsenden, ja, diesen sogar formen und ausbilden und durch einen steten, versorgenden Kraftstrom am Leben erhalten.
Wie oben erwähnt, ist es die im Yoga zur Erweckung angerufene psycho-spirituelle „Schlangenkraft“ der Kundalini-Shakti – die altehrwürdige Schlangendrachin –, die durch die einzelnen Chakra-Räume zu führen und diese vermittels ihrer Führung zum Leben zu erwecken vermag.
Berücksichtigen wir jedoch die dem westlichen bzw. jüdisch-christlichen Lebensraum zugrundeliegende Dämonisierung des Schlangenwesens, die von der „satanischen Verführerin“, als diese sie in einem ihrer Aspekte als Wirkkraft der Maya (= illusionäre, vergängliche Welt) auch erscheint, über die Verdammnis aus dem Paradies bis zur konsequenten Ausrottung der Drachenwesen durch ehrbare Rittersleute reichte, so können wir uns ungefähr ausmalen, in welch verheerendem Entwicklungszustand sich die Kundalini und ihre Chakras im zeitgenössischen westlichen Menschenwesen befinden.
Wir können bei den Chakras an verschlossene Museumsräume denken, die möglicherweise seit Jahrhunderten nicht mehr betreten wurden. Die Fenster zugenagelt und abgedunkelt. Die Luft stickig, verstaubtes Gerümpel und Spinnweben zuhauf. Aber hie und da im Dunkel doch eine schemenhafte Gestalt zu erkennen: vielleicht Werke, Bildnisse und Zeichen als Überlieferung aus einer fernen Zeit und einer noch ferneren Welt, oder einer anderen Dimension. Dies alles scheint nicht tot zu sein, sondern könnte in seiner Latenz jederzeit zum Leben erwachen. Könnte.
Im Yoga sind viele Mittel und Wege bekannt, die Schlangendrachin und große Führerin Kundalini zum Erwachen zu bringen. Auf dass sie die oben genannten Räume öffnen möge, sie durchfege und die Schätze zum strahlenden, lichtdurchfluteten Leben erwecke. Mit Absicht und Training allein ist dies jedoch nicht zu schaffen. Yoga ist schließlich keine Sportveranstaltung. Wirklichen Yoga und seine Segnungen zu empfangen, bedarf einer höheren Kraft. Und dies ist Gnade. Gnade ist jedoch keine Kraft, die dem Menschen gehört. Er kann sie höchstens empfangen und weitergeben. Um Gnade zu empfangen, gibt es keine Technik. Wille und Absicht zerschellen an ihr. Und ob Bitten, Askese, Reinigung und Demut Gnade hervorbringen, ist ungewiss.
Das Erwecken und Strömen der Kundalini und damit das Erblühen der Chakras, der nährenden und schöpferischen Quellen im Astralleib des Menschen, ist größtenteils allein von dieser Gnade abhängig. Und so bleibt das wirkliche Erwachen der Chakras, der „Stellwerke Gottes“ im Menschen, dem Gnadenstrom seines hohen Besitzers vorbehalten.