Die Sonne im Blick und das Ziel immer vor Augen: Der Sonnengruß betont unsere kraftvolle, männliche Seite, die uns zielstrebig voranschreiten lässt.
Es ist 6 Uhr. Wie eine glühende Verheißung geht die Sonne Rajasthans auf. Rot. Voll. Heiß. „Hiranyagarbhaya namaha“ – ich strecke mich in der Kobra dem roten Feuerball entgegen. Neben mir auf dem kühlen Marmorboden sitzt ein Skorpion.
Ich habe schon viele Sonnengrüße kennengelernt. Einfache, komplizierte, langsame, schnelle, indische, amerikanische … Aber egal welcher Spielart – eins haben alle Sonnengrüße gemein: die solare Energie, die uns aktiv, selbstbewusst und nach vorne gerichtet handeln lässt. Sogar die hingebungsvollen Haltungen am Boden sind klar ausgerichtet und kraftvoll. Während der ganzen Sequenz ist der Körper in einer rundum durchlässigen Spannung, und die sich abwechselnden Rück- und Vorbeugen sind ein rhythmischer Tanz aus Nehmen und Geben, aus Frage und Antwort, aus Angriff und Rückzug. Mit der stetigen Tendenz nach vorne, bis alle Fragen mit einem entschiedenen „Ja!“ beantwortet sind.
Die ersten Runden am Morgen fühlen sich allerdings oft an wie ein Kampf gegen die Widerstände der Steifheit, der Lethargie, der Schwere. Widerstände, denen man sich mit Ausdauer entgegenstellt und die man spätestens nach ein paar Runden ablegen kann. Flexibilität, Freude und Leichtigkeit halten Runde um Runde Einzug, und das Manipura-Chakra (Nabelchakra) erwacht: Seine Lebendigkeit vertreibt den schlammigen Matsch einer tamasischen (trägen) Nacht. Um diese Lebendigkeit zu unterstützen, habe ich der traditionellen Haltung Ashva-Sanchalanasana (Reiterhaltung) die nivata-Variante der gehobenen Mitte hinzugefügt. Die eine Faust dicht am Bauch aktiviert das Manipura-Chakra. Durch das gehobene, gestreckte Bein wird das Svadhisthana-Chakra (Sakralchakra) mobilisiert, das den Sonnengruß um den Genussfaktor erweitert. Die gestreckte Faust nach vorne ist eine energetische Haltung von Dhirendra Brahmachari, die in der gehaltenen Einatmung die Energie bündelt und damit die aufgebaute Energie im Körper hält und wie ein Bandha (Energieverschluss) funktioniert.
Die Sonne ist männlich und vereint die Eigenschaften von Pingala. Ida (weibliche Energie) ist dem Mondgruß zu eigen, der ebenfalls ein wichtiger Baustein meiner Yogapraxis ist. Es gehört Mut dazu, die männliche, fast einfältig ausgerichtete Energie zu benennen und sich ihr zu stellen. Eine Energie, die immer nur eins will: nach vorne gehen. Ohne Angst und Wenn und Aber. Aufgefangen durch die Weisheit der sonstigen Yogapraxis und der Meditation, die es ermöglichen, […]