Faszinierende Einblicke in die schamanische Tradition des kleinen Himalaya-Staates: Wie nepalesische Schamanen arbeiten und welche Grundlagen ihre Heilkunst hat
„Sanghiya Loktantrik Ganatantra Nepal“, die Demokratische Bundesrepublik Nepal – ein kleines Land zwischen den asiatischen Riesen Indien und China. Mit dem heftigen Erdbeben im April 2015 rückte Nepal in der öffentlichen Wahrnehmung stärker in den Vordergrund. Es gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Erdbeben und Armut sind aber glücklicherweise nur ein Teil der nepalesischen Realität. Ein anderer Teil überdauert bereits Äonen: der nepalesische Schamanismus. Laut Mohan L. Rai, Begründer des „Shamanistic Studies & Research Center“ in Kathmandu, handelt es sich um eine 75.000 Jahre alte spirituelle Kunstform, deren Ursprung Rai im Himalaya verortet. Schamanismus zählt ihm zufolge zu den ältesten Heilmethoden der Menschheit, ist keiner Religion zugehörig und tief in der Natur und ihren Kräften verwurzelt. Der nepalesische Schamanismus folgt einer eigenen Kosmologie, die stark mit der indischen Mythologie verwoben ist. Demnach gab es zuerst den Kosmos als allumfassende Kraft, und mit ihm existierte Shiva. Er hat weder Mutter noch Vater, sondern gilt als das kosmische Bewusstsein selbst. Ihn betrachten die Schamanen als ihren göttlichen Urahnen, den ersten Schamanen überhaupt. Sein Sohn Ganesha gilt ebenfalls als Schamane, getötet durch die furiose Hand seines Vaters (Shiva), durch den Tod gegangen und in einer veränderten Erscheinung mit besonderen Kräften zu einem zweiten Leben erweckt. Diese Transformation steht symbolisch für die Initiierung des Schamanen.
Schamanismus und Tantra in Nepal
In Nepal gibt es um die 100 ethnische Gruppen sowie ca. 124 Sprachen und Dialekte, ein lebhaftes Minoritätenmosaik. Diese Vielfalt spiegelt sich im nepalesischen Schamanismus wider: Je nach ethnischer Herkunft hat ein Schamane seine dem eigenen kulturellen Hintergrund entspringenden spezifischen Methoden, und er arbeitet mit Mantras aus dem eigenen Sprachraum. Trotz der ethnischen und sprachlichen Unterschiede kooperieren die Schamanen untereinander bei der schamanischen Arbeit, unterstützen sich in den Heilungssitzungen, koexistieren. Ihre gemeinsame Sprache ist Nepali, und auch eine gemeinsame, übergeordnete Kosmologie existiert. Stark verwurzelt in der indischen Mythologie, wird diese mit schamanistischen Perspektiven kombiniert. Grundlegend für den nepalesischen Schamanismus sind zudem die Koexistenz und das Ineinandergreifen von Schamanismus und tantrischer Spiritualität. Anders ausgedrückt, wäre der nepalesische Schamanismus ohne Tantra (in einem ursprünglichen Verständnis, weit weg von westlichen Vorstellungen über Tantra im Sinne […]