Die Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Diesen Spruch können wir auf alles übertragen: Auf unseren Umgang mit unseren eigenen Schwächen und die Berücksichtigung der schwächsten Teilnehmer einer Gruppe. Nur wenn wir sie im Blick haben, findet Transformation statt.
Manchmal muss ich eine Wahrheit tausendmal hören, bevor sie für mich Wirklichkeit wird. So verhält es sich auch mit dem Satz: Anstatt das schwächste Glied in der Kette zu entfernen, muss man es stärken. Und eine weitere Weisheit zu diesem Punkt lautet: Du musst das schwächste Glied in der Kette berücksichtigen, weil es die Belastbarkeit der Kette bestimmt.
Diese Erfahrung habe ich gerade wieder mit einer MBSR-Gruppe gemacht, die ich leitete. In der MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) gibt es einen strikten Fahrplan für die Kurse, der lange Sitzmeditationen und Body-Scans im Liegen enthält. In dieser Gruppe war ein Mann, dem es nicht möglich war, länger als drei Minuten still sitzen zu bleiben. Anstatt ihm die vorgeschriebenen 40-Minuten-Meditationen mit nach Hause zu geben, habe ich für ihn 3-Minuten-Meditationen aufgenommen und ihn ermutigt, mit diesen anzufangen. Auch die Meditationen in dem Kurs habe ich bewusst gekürzt.
In den ersten Wochen kam der Mann immer wieder an seine Grenzen und ich war mir nicht sicher, ob er die acht Wochen durchhalten würde. Ich ermutigte ihn, seine Aufmerksamkeit auf das achtsame Teetrinken zu verlagern und im Anschluss daran noch eine Minute sitzen zu bleiben. Mit Erfolg. Dadurch fühlte sich der Mann in seiner Not gesehen und es gelang ihm, manchmal sogar fünf Minuten nach dem Tee in Stille zu verweilen. Diese Erfahrung führte dazu, dass er sich bemühte, die 3-Minuten-Meditationen durchzuhalten. Manchmal gelang es ihm, manchmal nicht. Aber im Laufe des Kurses nahm seine Konzentrationsfähigkeit zu. Nach sieben Wochen gelang es ihm dann auch immer wieder, sogar vier bis fünf Minuten still sitzen zu bleiben.
Als der Kurs zu Ende ging, waren alle mit ihren Fortschritten sehr zufrieden. Einige der Teilnehmer meditierten jetzt tatsächlich täglich 30 bis 40 Minuten. Auch dieser Mann war zufrieden. Für ihn war es jetzt möglich, jeden Tag gut fünf Minuten zu meditieren. Er war sehr stolz auf sich.
Aber nicht nur das: Er war derjenige, der sich dafür einsetzte, dass die Gruppe fortgeführt wurde und wir nun einmal im Monat zusammenkommen und gemeinsam meditieren und Achtsamkeit praktizieren!
Ich freute mich sehr darüber und begriff wieder einmal, wie wichtig es ist, das schwächste Glied zu stärken. Hätte ich auf die strikte Abfolge des Kursplans bestanden, hätte dieser Mann den Kurs abgebrochen und hätte sich – wie er es so oft zuvor getan hatte – als Versager gefühlt. So aber konnte er seinem eigenen Naturell gemäß wachsen. Und die anderen Teilnehmer des Kurses? Diese übten sich derweil im nicht werten und in der Praxis des Anfängergeistes.
Als ich mir Gedanken über diesen Mann machte, fiel mir eine Geschichte ein:
Der besonders gierige Schüler
Einst lebte ein Guru mit seinen Schülern in einem Ashram. Es kam der Tag, da wurde einer der Schüler erwischt, als dieser den köstlichen Reiskuchen, der für alle Schüler bestimmt war, aus der Vorratskammer stahl. Der Guru ermahnte den Dieb vor den anderen und ging bald darauf zur Tagesordnung über. Bereits eine Woche später wurde der gleiche Schüler ein zweites Mal ertappt, wie er Brot und Fisch stehlen wollte. Auch dieses Mal ermahnte der Guru den Dieb vor den anderen und ging bald darauf wieder zur Tagesordnung über. Eine weitere Woche kam ins Land und wieder wurde der gleiche Schüler beim Stehlen erwischt. Dieses Mal aber reagierten die anderen Schüler im Ashram mit Ärger, gingen gesammelt zu ihrem Guru und sagten: „Guruji, jetzt ist es an der Zeit, dass du den Dieb aus dem Ashram wirfst. Wir möchten nicht länger mit einem solchen Menschen zusammenleben. Er hat nichts von deinen spirituellen Lehren verstanden. Er ist nach sechs Monaten hier im Ashram immer noch genauso gierig wie am ersten Tag.“ Daraufhin antwortete der Guru: „Ihr habt Recht! Da ihr anderen alle scheinbar verstanden habt, worum es bei der Spiritualität geht, würde ich euch vorschlagen, dass ihr das Kloster verlasst. Ihr seid wohl schon alle erleuchtet. Ich aber werde mich um den Dieb kümmern. Er ist der einzige, der meine Hilfe braucht, weil er immer noch nicht verstanden hat, worum es hier geht.“
Schau auf deine Schwächen – aber bitte mit Liebe
Diese Geschichte berührt mich immer wieder, denn sie zeugt von der Weisheit des Gurus. Was hätte es gebracht, den Dieb rauszuwerfen?!
So wie ich mit dem Mann in der Gruppe und der Guruji mit diesem Dieb umgegangen ist, so sollten wir auch mit unseren eigenen Schwächen umgehen. Anstatt uns wegen ihnen zu verurteilen, uns abzulehnen und klein zu machen, sollten wir uns selbst mit liebevoller Zuwendung begegnen und uns da abholen, wo wir sind. Auch unsere Praxis sollten wir entsprechend anpassen und uns hier für kleine Fortschritte loben, anstatt auf das zu schauen, was wir noch nicht erreicht haben.
Denn nur dann, wenn wir unsere Schwächen miteinbeziehen, sie anerkennen und gut mit uns umgehen, kann tiefe Transformation entstehen. Dann wird genau dieser Teil uns weiter auf unserem spirituellen Weg unterstützten und dafür sorgen, dass wir dranbleiben anstatt uns ständig im Weg zu stehen. Dann wird das, was uns lange im Weg stand, zum Weg selbst – der mitten in unserem Herzen endet.
Infos
Die Geschichte „Der besonders gierige Schüler“ stammt aus dem Buch Alles ist Yoga von Doris Iding.