Sowohl in der Bhagavad Gita (Vers 6.33 – 36) als auch im Yogasutra (Vers 1.12) geht es um Disziplin und Gleichmut. Wenn es dir gelingt, eine Balance zwischen diesen beiden Aspekten herzustellen, wirst du langfristig zufrieden und entspannt.
Letzte Woche habe ich an einem Seminar für Selbstmitgefühl teilgenommen. Als der Kursleiter Chris Germer die 45 Teilnehmer fragte, wer von ihnen gerne öfters und regelmäßiger meditieren würde, zeigten zwei Drittel der Anwesenden auf. Vielleicht kennst du es selbst ja auch: Du möchtest gerne mehr meditieren, um deinen Geist zu beruhigen, mehr Yoga machen, um deinen Körper zu dehnen und mehr Sport treiben, um deine Gesundheit zu verbessern. Gut gemeinte Vorsätze, aber leider scheitert es viel zu häufig an der Umsetzung. Damit bist du nicht alleine. Mir geht es ähnlich: Ich muss auch immer wieder die Balance herstellen zwischen Disziplin und Gleichmut.
Disziplin als allumfassende Liebesbeziehung mit uns selbst
Auch die Zenlehrerin Doris Zölls weiß, wie wichtig Disziplin ist. Sie hat dazu ein ganzes Buch geschrieben und darin einige wertvolle Gedanken aufgeführt. So schreibt sie zum Beispiel: „Die Erfahrung, sich in der Welt beheimatet zu fühlen, steht uns allen offen. Im Zen wird dies mit der radikalen Akzeptanz aller Wesen in Verbindung gebracht. Wer dorthin gelangen möchte, braucht stetes, aufmerksames Hören auf das, was das Leben bereithält, Durchhaltevermögen, Mut und Kraft – Disziplin. Diese Disziplin hat also nichts mit Unfreiheit und Zwang zu tun, sondern es stellt sich im Gegenteil bereits mit dem Beginn der Übung eine allumfassende Liebesbeziehung ein.“
Für mich hat Zölls, die seit 2003 die spirituelle Leitung des Zentrums für Meditation und Achtsamkeit Benediktushof in der Nähe von Würzburg inne hat, sehr schön auf den Punkt gebracht, was Disziplin ist und wohin sie uns führt. Ja, dabei wird deutlich, dass die Disziplin der Schlüssel zu allem ist. Mit Disziplin ist alles möglich, ohne sie werden wir nicht weit kommen.
Leider wird das Wort Disziplin viel zu häufig missverstanden und mit Erinnerungen an eine Schulzeit in Verbindung gebracht, die uns gequält hat und in der wir das Gefühl hatten, wertvoller Lebenszeit beraubt zu werden. Wir mussten diszipliniert für Schularbeiten und Klausuren Fakten lernen, die uns im Alltag des Lebens nicht viel gebracht haben. Wenn wir mit dieser Vorstellung an die Yogapraxis oder die Meditation herangehen, dann wird es natürlich schwierig, dies als eine Übung der allumfassenden Liebesbeziehung zu sehen. Betrachten wir unsere Praxis hingegen als eine Art Liebesbeziehung, dann kann daraus etwas Wundervolles entstehen. Wir können beispielsweise mit uns selbst und anderen eine nie endende Liebesbeziehung beginnen. Vor allen Dingen und in erster Linie aber mit uns selbst.
Lass „Müssen“ und „Sollen“ los und entwickle Gleichmut
Eine Liebesbeziehung kann sich aber nur auf freiwilliger Basis entwickeln und so beinhaltet Abhyasa und Vairagya natürlich ein gewisses Spannungsfeld. Wenn wir schon mit Diszplin täglich auf die Yogamatte gehen oder uns aufs Kissen setzen, dann wollen wir natürlich auch möglichst schnell und möglichst bald eine Belohnung dafür bekommen. Schließlich sind wir so erzogen worden. Haben wir uns in der Schule angestrengt und eine gute Note nach Hause gebracht, wurden wir anerkannt und geliebt. Weniger für uns selbst, vielmehr für das, was wir geleistet haben. Eine solche Prägung sitzt tief in unseren Genen, so nehmen wir sie mit auf die Matte.
Wie streng wir zu uns selbst sind, wenn wir uns innerlich für eine Praxis verpflichten wollen, erlebte ich auch gestern wieder, als ich selbst einen Kurs gab. Eine sehr erfolgreiche Unternehmerin war inspiriert von unserem gemeinsamen Üben und erklärte mir, dass sie jetzt täglich meditieren müsse, um mehr zu sich selbst zu kommen. Ich empfahl ihr, das „Müssen“ und „Sollen“ loszulassen, und ihre Praxis aus einem Gefühl der Selbstliebe heraus zu machen. Denn wie oft peitschen wir uns mit „Müssen“ und „Sollen“ durch den Alltag und haben dann nur noch einen Punkt mehr auf unserer To-Do-Liste, wenn wir ein solches Vorzeichen vor unsere spirituelle Praxis setzen. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus funktioniert es auch nicht, solange nicht wirklich ein Gefühl der tiefen Sehnsucht und des Selbstmitgefühls dabei ist.
Lasse ich aber eben dieses „Ich muss“ los und praktiziere aus einem Gefühl des Gleichmuts heraus, das heißt, ohne auf ein unmittelbares Ergebnis zu hoffen, kann eine Praxis im yogischen Sinne geschehen. Eine Praxis, die aus sich selbst heraus entsteht. Das ist natürlich am leichtesten, wenn du diese Praxis wie ein Ritual in dein Leben integrierst und sie zu einer Gewohnheit werden lässt. Zu einer Selbstverständlichkeit, ohne dabei in einen Autopiloten zu verfallen. Lass diese Praxis zu einem Bestandteil deines Lebens werden. Beginne damit, selbst dann, wenn du nur fünf oder zehn Minuten am Tag übst. Hauptsache, du fängst an, und zwar aus vollem Herzen. Mach deine Praxis einfach und absichtslos. Nur sie wird dich zum Ziel führen. Auch wenn das natürlich gar nicht so einfach ist, so ist es doch möglich und führt uns direkt ins Herz des Yoga.
Zum Weiterlesen:
Doris Zölls: Disziplin als Anfang. Der Zen-Weg zur Liebe. Kösel Verlag 2018