Yogananda nennt sie die noblen Eigenschaften, die einen Menschen gottgleich werden lassen. In der Bhagavadgita erfährt Arjuna, welche 26 göttlichen Eigenschaften er als spiritueller Aspirant neben unzähligen weiteren mindestens kultivieren sollte, um der Erleuchtung näher zu kommen. Diese Tugenden wollen wir hier anführen, genauer betrachten und uns sozusagen als affirmative Neujahrsvorsätze vornehmen. Denn wer über diese 26 Qualitäten verfügt, kann moksha, die Befreiung aus dem Kreislauf des Lebens und Sterbens, erlangen.
Die bewusste und achtsame Förderung dieser noblen Wesenszüge bringt uns dem wahrhaftigen Geist des Yoga näher.
- Furchtlosigkeit (abhayam)
Es mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, dass die Furchtlosigkeit als erste noble Charaktereigenschaft aufgezählt wird. Und doch ist sie der Grund und Boden, auf dem das spirituelle Grundgerüst errichtet wird. Denn Furchtlosigkeit meint in diesem Sinne unerschütterliches Gottvertrauen.
- Reinheit des Herzens (sattva-samshuddi)
Das Herz sollte rein und frei von jeglicher Anhaftung und Abneigung sein. Schon Jesus sagte, „Selig, die ein reines Herz haben“.
- Standhaftigkeit (jnana yoga vyavasthiti)
Wer standhaft auf dem Weg des Yoga bleibt, wird Befreiung erlangen. Standhaftigkeit bedeutet in diesem Sinne auch, die regelmäßige Ausübung spiritueller Praktiken wie Meditation, Yoga, Pranayama, Mitgefühl, …
- Großzügigkeit (dana)
Ein großzügiger Charakter ist Ausdruck von Selbstlosigkeit und Empathie mit anderen. Als dana wird im Buddhismus die Praxis des Gebens aus vollem Herzen bezeichnet. Der Großzügige teilt seinen Besitz und gibt denjenigen etwas davon ab, die weniger haben, als er selbst.
- Selbstbeherrschung (dama)
Diese Qualität ist mit Pratyahara, dem 5. Glied im Raja Yoga gleichzusetzen und bezieht sich auf das Zurückziehen der Sinne. Nur wer Kontrolle über seine Sinne erlangt, kommt auf dem spirituellen Weg voran und kann seine Konzentration auf das Göttliche bzw. nach innen lenken. Wer seinen Sinneseindrücken hingegen erliegt, wird sich immer von äußeren Reizen ablenken und stören lassen.
- Gottesverehrung & Ritual (yajnas)
In den Veden bezeichnet der Begriff yajnas ein Opferritual. Auf die noblen Charaktereigenschaften eines Yogis übertragen, ist damit die Verehrung einer höheren Instanz wie Gott, Mutter Erde oder eines höheren Selbst gemeint. Die höchste Ehrerbietung ist dann erreicht, wenn jede Tat und jeder Gedanke mit dem Göttlichen korrespondiert.
- Selbststudium & Selbsterforschung (svadhyaya)
Mit svadhyaya ist nicht nur das Studieren, sondern vor allem das „richtige“ Studieren der historischen Schriften gemeint. Richtig studiert jener, der das theoretische Wissen zum einen versteht, und zum anderen auch in sein Leben integrieren und umzusetzen vermag. Doch auch die Selbsterforschung ist ein wichtiger Teil dieser noblen Eigenschaft. Denn die Beobachtung der eigenen Handlungen und Gedanken fördert die Bewusstheit über sich selbst.
- Disziplin (tapas)
tapas meint abgesehen von der physischen, vor allem die spirituelle Disziplin. Als noble Eigenschaft gehört sie zu den Niyamas, den ethischen Regeln der Raja Yogis. Aus eigener Erfahrung wissen viele, dass die eine oder andere Form der Selbstdisziplin notwendig ist, um materielle Wünsche in spirituelle Bestrebungen umzuwandeln und die immerwährende Glückseligkeit den vorübergehenden Sinnesverheißungen vorzuziehen. Nur wer weise zwischen Selbstdisziplin und Selbsttortur unterscheidet, kann tapas meistern. In diesem Sinne sollten alle getätigten Handlungen dem Ziel der spirituellen Entwicklung dienen.
- Geradlinigkeit (arjavam)
Geradlinige Ehrlichkeit – Ganz klar eine Eigenschaft eines noblen Charakters. Ohne Umwege kommt man schließlich auch auf dem schnellsten Wege an sein Ziel.
- Gewaltlosigkeit (ahimsa)
ahimsa ist die erste Stufe im Raja Yoga nach Patanjali. Das Nicht-Verletzen, die Gewaltlosigkeit sind selbstverständliche Eigenschaften eines wahren Yogis. Dieser richtet sein Leben nach dem Prinzip aus, weder sich selbst noch irgeneinem anderen Wesen Schmerz oder Leid zuzufügen.
- Ehrlichkeit (satya)
In der Mahabharata heißt es, die Welten seien auf der Wahrheit gebaut. Einer, der die Qualität satya besitzt, spricht die Wahrheit, denkt die Wahrheit und agiert auch gemäß der Wahrheit. In Patanjalis Yogasutras stellt satya das zweite Yama dar und ist somit nach der Gewaltlosigkeit (ahimsa) die zweitwichtigste Stufe des Yoga.
- Nichtzürnen (akrodha)
Diese Qualität eröffnet dem Yogi den schnellsten Weg hin zu einem friedvollen Leben. Nicht zu zürnen, sondern sich stattdessen in Mitgefühl zu üben, durchzuatmen, sacken zu lassen und zu vergeben – alles Möglichkeiten, um im Frieden zu leben.
- Verzicht (tyaga)
In einer Welt voller „Habenwollen“ ist der Verzicht eine schwierige, aber umso wichtigere Tugend. Es bedarf einer gewissen Weisheit, um zu erkennen, was bleibt und wahrhaftig ist und was hingegen nur vorübergehende Freude bereitet. Es ist eine wichtige spirituelle Praxis, hin und wieder auf einen Wunsch zu verzichten, um dadurch mehr Freiheit zu erlangen. Wer nach Selbstverwirklichung strebt, handelt ohne den Früchten seiner Handlung anzuhaften. „tyaga“ bedeutet Loslassen und kommt dem buddhistischen Konzept der Überwindung von Anhaftung gleich.
- Frieden (shanti)
Om shanti, shanti, shanti. So oft rezitieren wir diese vier Wörter am Ende einer Yogastunde, ohne uns ihre Bedeutung wirklich bewusst zu machen. Ein wahrer Yogi lebt im Frieden mit sich und seiner Umgebung. Er verbreitet daher auch eine friedliche Energie. Die Qualität des Friedens ist eine göttliche. Wer sie lebt, lebt im Frieden Gottes.
- Keine Verleumdung anderer (apaisunam)
Ganz nach dem biblischen Motto „ Wer ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein“ verzichtet ein Yogi, der über die noble Qualität „apaisunam“ verfügt, darauf, andere zu verunglimpfen und stets nur ihre Fehler hervorzuheben. Stattdessen konzentriert er sich lieber auf die positiven und liebevollen Eigenschaften seines Gegenübers.
- Mitgefühl mit allen Wesen (daya)
„Lokah Samastah Sukhino Bhavantu“ – Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich und zufrieden sein! Dies ist die Bestrebung eines wahren und empathischen Yogis.
- Nicht-Begierde (aloluptvam)
Sich in „Anicca“ (Gleichmut) zu üben bedeutet, anzunehmen, was kommt und sich in Zufriedenheit zu üben, wenn das Gewünschte auch mal nicht kommt – dies sind Eigenschaften, die den gleichmütigen yogischen Charakter ausmachen.
- Sanftmut (mardavam)
Sanftmut als Zeichen der Weisheit: Ein sanfter Mensch ist verständnisvoll allen Temperamenten der Menschen gegenüber und verfügt über ausreichend Geduld, um sein Herz für spirituelles Wachstum zu öffnen. Zudem zeigt sich der Sanftmut des Aspiranten auch in seinen Taten. So behandelte er jedes Wesen, ob belebt oder unbelebt, im Sinne von mardavam.
- Bescheidenheit (hri)
hri wird in der haṭhapradīpikā als siebtes Niyama gelistet, wenn die Niyamas auf 10 Tugenden ausgeweitet werden. Auch Bescheidenheit ist ein Zeichen von Weisheit. Nur wer über hri verfügt, ist in der Lage Wiedergutmachung zu leisten und Hindernisse aus dem Weg zuräumen, um auf dem spirituellen Weg des Yoga voranzukommen. Bescheidenheit ist eine der wichtigsten Tugenden eines Schülers, ohne die dieser die Weisheit seiner Lehrer nicht begreifen und annehmen könnte.
- Das Fehlen von Rastlosigkeit (achapalam)
Manchmal muss man stehen bleiben, damit das Glück einen finden kann … Der Rastlose ist nicht in der Lage, seinen Geist im Hier und Jetzt zu halten und somit die Wahrheit hinter der Illusion, die wir unsere Welt nennen, zu erkennen. Nur ein ungetrübter, kristallklarer Geist führt zur Erleuchtung. Der Yogi sollte seinen Geist also nicht ohne höheres Ziel beschäftigen, sondern für spirituell wertvolle Aktivitäten nutzen.
- Ausstrahlung des Charakters (tejas)
tejas bezeichnet im Sanskrit das kosmische Feuer, sowie die intensive spirituelle Kraft bzw. unser Charisma. Die Hindus bezeichnen tejas als eine Qualität der Götter. Ein wahrer Yogi strahlt eine göttliche Energie aus und wirkt auf ganz natürliche Weise wie ein Magnet auf andere spirituell Interessierte. Ihn umgibt eine Aura des Guten und in ihm wirkt eine tiefe innere Freude.
- Vergebung (kshama)
„Irren ist menschlich, vergeben ist göttlich.“ (Swami Sivananda) kshama ist die Bereitschaft zu verzeihen und zu entschuldigen und barmherzig und mitfühlend über eine Beleidigung oder ein Verschulden eines anderen hinweg zu sehen – Vergebung ist ein wirkungsvolles Gegenmittel gegen Ärger und Zorn und somit eine Tugend, deren Aneignung sich immer lohnt.
- Geduld & Standhaftigkeit (dhriti)
Nur wer über ausreichend Geduld und Entschlossenheit verfügt, kann eventuelle Rückschläge und Hindernisse duldsam und gleichmütig hinnehmen, ohne von seinem spirituellem Weg in Richtung Selbsterkenntnis abzukommen. Nur durch seine unendliche Geduld wird der Yogi irgendwann in der Lage sein, die göttlichen Wege zu begreifen.
- Reinheit (shaucha)
shaucha stellt das erste von fünf Niyamas dar und meint nicht nur die körperliche, äußere Reinigung, sondern auch die innerliche Reinigung von Blockaden im Körper sowie zudem die Klarheit (Reinheit) des Geistes. Der Yogi praktiziert Asana, Pranayama und Kriyas, um die Qualität von shaucha zu erlangen.
- Frei von Hass (adroha)
Wohlwollen ist eine Tugend, die jeder kultivieren möchte und sollte, ob Yogi oder nicht. Wer schlecht von anderen denkt, oder sogar Hass gegenüber anderen empfindet, ist nicht mehr in der Lage, das Göttliche in allem zu erkennen. Gleichwohl kann jemand, der Gott in allem sieht, niemanden und nichts verabscheuen.
- Frei von Arroganz und Hochmut (na atimanita)
Derjenige, der frei von dem Gefühl eines übersteigerten Selbstwertes ist, wird reicher an Spiritualität werden und schließlich mit Gott verschmelzen. Anstatt sein gefährliches Halbwissen als ultimative Wahrheit anzunehmen, stärkt diese Tugend das Wissen um das eigene Unwissen.
Achtung vor den fünf großen menschlichen Schwächen
Abgesehen von diesen positiven, stärkenden Charakterzügen, die uns dem Göttlichen näher bringen, nennt die Baghavadgita aber auch fünf so genannte „Charakterschwächen“, die uns den Zugang zu unserer eigenen Göttlichkeit erschweren.
Diese sind:
- Ajnana (die Unwissenheit bzw. die Unbewusstheit)
- Asmita (das Ego, bzw. die Ichverhaftung)
- Abhinivesha (die Angst vor Tod & Wiedergeburt)
- Raga/Dvesha (das Mögen und Nichtmögen)
Konzentrieren wir uns daher auf die positiven, noblen Qualitäten eines Yogis. Wenn wir diese in uns und unserem Leben versuchen, vermehrt zu kultivieren, stärken wir auch das Göttliche in uns und unserem Leben.
In diesem Sinne: NAMASTE und ein glückliches, wahrhaftiges neues Jahr!