Neue Patienten sind meist überrascht, wenn ich sie im Erstgespräch nach ihrem typischen Tagesablauf frage, sagt unser Gastautor, der Ayurveda-Arzt Dr. Suhas Kshirsaga. Die Antworten auf seine Fragen sind jedoch sehr aufschlussreich, vor allem aus Sicht der ayurvedischen Medizin. Schließlich bedeutet Ayurveda übersetzt so viel wie “die Wissenschaft vom Leben”. Herkömmliche Ärzte haben oft nicht die Zeit, diese Art von Fragen zu stellen. Während sich die Schulmedizin traditionell auf Krankheiten fokussiert, setzt sich Ayurveda schon immer mit dem Gesundsein auseinander. Fakt ist: Ein gesunder Lebensstil ist die wichtigste Voraussetzung für eine gute Gesundheit!
Was machen Sie den ganzen Tag? Womit verbringen Sie Ihren Tag, oder wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen aus? Ich erfrage die typischen Essenszeiten und auch, was für gewöhnlich gegessen wird. Zudem, wieviel Bewegung stattfindet und wie oft Sport betrieben wird. Ich frage nach den Schlafenszeiten und nach der Qualität des Schlafs. Eine wichtige Frage betrifft auch die Aktivitäten vor dem Zubettgehen. Ich will erfahren, womit sich die Menschen, die zu mir kommen, in den Stunden vor dem Einschlafen beschäftigen, und wie sie mit Alltagsstress umgehen.
Ayurveda ist eine Lifestyle-Medizin, die unseren Körper als Informations- und Energiefeld wahrnimmt. Denn aus ayurvedischer Sicht wird der physische Körper nicht als Struktur gesehen, sondern als ein sich ständig verändernder Prozess, als etwas, das auf all das reagiert, das wir mit ihm tun. Mit etwas Hintergrundwissen und Achtsamkeit können wir nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere Beziehung zu ihm verändern. Dies ist eine wichtige Erkenntnis. Sie zeigt, dass der “Patient” selbst am Steuer sitzt und auf seine Gesundheit einwirken kann. Mit der richtigen Unterstützung und Anweisung können wir also unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Gefährlicher Lebenswandel
Gerade jetzt, in unserer gegenwärtigen Lebenswelt, wird es allerhöchste Zeit, uns dieses Konzept aus dem Ayurveda wieder bewusst zu machen: Die Gesundheitsbehörden sprechen von 67 Prozent übergewichtiger Erwachsener in den USA, während 32 Prozent bereits an Bluthochdruck leiden, einem häufig mit Übergewicht in Korrelation stehendem Symptom. Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC schätzt, das bereits jeder dritte Erwachsene (etwa 84 Millionen Menschen) an Prädiabetes leidet und 90 Prozent dieser Menschen noch nicht einmal wissen, dass sie krank sind. Rund 71 Millionen Erwachsene leiden unter ihren gefährlich hohen Cholesterinwerten, nur weniger als ein Drittel von ihnen haben ihre gesundheitliche Situation unter Kontrolle. Schätzungen zufolge verursachen vorallem gewisse Lebensstilfaktoren rund 70 Prozent aller Sterbefälle in westlichen Gesellschaften.
Fast immer zeigen mir die Antworten der Patienten auf einfache Lebensstilfragen ihren modernen und gesundheitsgefährdenden Lebensstil auf. Dabei gehört die amerikanische Standarddiät (bzw. die westliche Standarddiät, Anm.d.R.), die aus häufigen Mahlzeiten und Snacks sowie einer Fülle an verarbeiteten Lebensmitteln mit reichlich Chemikalien, Zucker und Salz besteht, zu den vorrangigen Problemen. Zusätzlich verbringen die meisten Menschen einen Großteil ihrer Tage und sogar ihrer Nächte vor dem Bildschirm. Da wir rund um die Uhr die Möglichkeit haben, Fern zu sehen oder Nachrichten sowie Emails zu verfassen und zu versenden, sind auch Phänomene wie regelmäßig gleichbleibende Schlafenszeiten passé. Wie eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, hat sich unsere durchschnittliche Schlafmenge reduziert. So schlafen wir heute rund 40 Minuten weniger als noch vor zehn Jahren.[1]
Sozialer Jetlag
Wer abends lange wach bleibt und am nächsten Morgen zeitig für die Arbeit aufstehen muss, fühlt sich zwangsläufig “groggy” und unfokussiert. Erschwert wird dies zusätzlich durch den so genannten “Sozialen Jetlag”, der sich folgendermaßen erklärt: Wir bleiben am Wochenende gerne mal ein oder zwei Stunden länger wach und schlafen dafür am Morgen länger. Das bringt nicht nur unseren Schlafrhythmus aus dem Gleichgewicht, sondern lässt uns spätestens am Sonntagabend schlechter einschlafen und führt in weiterer Folge zur typischen schlechten Montagmorgenlaune.
Doch der “Soziale Jetlag” wirkt sich auch negativ auf unser Verdauungssystem und die Leber aus. Hinzu kommt, dass viele meiner Patienten Sport und Bewegung eher als eine Art Bestrafung ansehen, denn als etwas, mit dem sie gerne ihre Freizeit verbringen, während einige dem Sport aus Frust sogar ganz abgeschworen haben. Ohne den richtigen Zeitplan, fehlt diesen Patienten oft das passende Werkzeug, um einen gesunden Körper und Geist aufzubauen.
Wenn alles nach Plan läuft
Immer schon gehen wir in der jahrtausendealten Ayurveda Heilkunde davon aus, dass der Körper und seine Systeme einem Zeitplan folgen, der auf die hellen und dunklen Zyklen des Tagesverlaufs ebenso reagiert, wie auf die sich ändernden Lichtverhältnisse in den Jahreszeiten. Auch wenn wir uns manchmal das Gegenteil vorzumachen versuchen, der menschliche Körper ist nun Mal Teil der Natur.
Langsam beginnt nun auch die westliche Wissenschaft das meisterhafte Uhrwerk und die innere Rhythmik unseres Körpers zu entdecken. Die Abläufe unserer Körpersysteme werden von einer kleinen Zellansammlung namens SCN, Suprachiasmatischer Nukleus genannt, gesteuert, der sich im Hypothalamus befindet. Der SCN kontrolliert Blutdruckschwankungen, Darmfunktion und Hormonhaushalt sowie die Glukoseaufnahme der Leber und er reguliert sogar die Zellteilung. Noch immer entdeckt die Wissenschaft weitere Systeme, die durch den SCN reguliert und kontrolliert werden. Als vielleicht wichtigstes unter ihnen gilt der Schlafzyklus des Körpers.
Schlafmangel?
Eine weitere wichtige Aufgabe des SCN ist die Ausschüttung des körpereigenen, natürlichen Schlafmittels Melatonin etwa 60 bis 90 Minuten vor unserer eigentlichen Schlafenszeit. Wie neueste Studien herausfanden, verleitet das Blaulicht von elektronischen Geräten wie TV, E-Reader und vor allem das von Smartphones unser Gehirn zu der Annahme, dass noch Tag sei, und verschiebt somit die Ausschüttung von Melatonin zeitlich nach hinten. Das ist der Grund für jene Einschlafprobleme von denen mir so viele meiner Patienten so oft berichten. So fällt es ihnen schwer, vor Mitternacht einzuschlafen, auch wenn sie wissen, dass sie am nächsten Morgen früh raus müssen. Bei vielen Menschen korreliert dieser chronische Schlafmangel sogar direkt mit einer Gewichtszunahme.
Im Ayurveda bezeichnen wir Schlaf als Wunderheilmittel, denn es sind mitunter diese Tiefschlafperioden, die uns gesund halten. In den letzten 90 Minuten vor dem Schlafengehen auf elektronische Geräte zu verzichten, ist eine denkbar einfache Lösung gegen Insomnie, die zwar vielen meiner Patienten zunächst nicht gefällt – aber schließlich einfach wirkt: Sobald sie auf elektronische Stimuli vor dem Zubettgehen verzichteten, konnten viele meiner Patienten viel schneller und ohne Probleme einschlafen. Darüber hinaus wurden dadurch auch Schlaftabletten und Co. überflüssig – ein schöner Nebeneffekt, den sich eigentlich jeder herbeisehnt.
Wenn wir untertags ausreichend Tageslicht erhaschen, können wir unsere Schlafenszeit entsprechend anpassen: Eine Studie zeigte, dass Menschen, die in Tageslichtbüros arbeiteten in der Nacht etwa 46 Minuten mehr Schlaf erhielten und unter deutlich weniger körperlichen Beschwerden litten, als jene, die in Büros mit künstlichem Licht arbeiteten. [2]
Intervallfasten
Ein Blick auf unsere innere Uhr hilft uns zu verstehen, warum manche Menschen so schwer abnehmen. Um Gewicht zu reduzieren müssten sie nicht nur auf ihre Ernährung achten, die aus einem bunten Mix aus Früchten und Gemüse sowie einem geringen Anteil an Proteinen und guten, gesunden Fetten bestehen sollte, vor allem müssten sie auch den Essenszeitpunkt beachten. In einer aktuellen Studie wurden die Teilnehmer gebeten, über mehrere Wochen lang Fotos von allem zu machen, dass sie täglich zu sich nahmen, und diese an die Wissenschaftler zu senden. Dabei machten die Forscher die Entdeckung, dass die meisten ihrer Testpersonen weit mehr als drei Mahlzeiten pro Tag zu sich nahmen. Einige aßen teilweise 13 Stunden lang in einem fort. [3]
Dieses konstante “Snacken” führt dazu, dass der Insulinspiegel zwischen den Mahlzeiten nie auf seinen Normalwert absinken kann, sondern immer erhöht bleibt. Während Insulin die Zellen mit Energie versorgt, signalisiert es dem Körper gleichzeitig aber auch, überschüssige Fettreserven anzulegen. Somit verweigern wir konstant eine Fettverbrennung. Zusätzlich verlagert der Darm seine täglichen “Reparaturarbeiten” nun auf die Nacht, da wir ihm untertags keine Ruhephase gönnen. Um die Insulinausschüttung zu regulieren, sollten wir uns jede Nacht ein Fastenfenster von circa 13 Stunden frei halten. Dieses sogenannte Intervallfasten hilft uns dabei, jene Hormone zu regulieren, die unser Hunger- und Sättigungsgefühl steuern. Den Teilnehmern dieser Studie wurde zunächst geraten, die Zeitspanne der Nahrungsaufnahme von 13 Stunden auf 11 Stunden zu reduzieren und es funktionierte: Es gelang ihnen, abzunehmen und das neue Gewicht auch zu halten. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, weniger zu essen, sollten wir uns also mehr darauf konzentrieren, seltener zu essen.
Der frühe Vogel macht Morgensport
Als Arzt ist es einfach, jemandem zu raten, mehr Sport zu betreiben. Doch zunächst gilt es sicherzustellen, dass Bewegung nicht zur lästigen und anstrengenden Pflicht wird. Sobald man das richtige Maß an Bewegung zur richtigen Tageszeit einplant, wird alles einfacher. Ich persönlich rate meinen Patienten, ihren Tag mit einem frühen Morgenspaziergang oder langsamen Joggen zu beginnen. Dabei reichen 20 Minuten täglich völlig aus. Wichtiger als die Länge und Intensität der Bewegung ist vor allem, dass die sportliche Betätigung vor dem Frühstück passiert. Denn vor dem Essen Sport zu treiben, hat zahlreiche Vorteile, zum Beispiel wird die Fettverbrennung angeregt.
Wie meine Patienten immer wieder zufrieden feststellen, weckt uns Morgensport besser auf, als Kaffee es je könnte. Auch Studien belegen, dass Bewegung nach solchen natürlichen, nächtlichen Fastenperioden unseren Stoffwechsel enorm ankurbelt. Indem wir den Morgensport zur täglichen Gewohnheit machen, können wir unseren Körper dabei unterstützten, wieder seinen natürlichen Rhythmus aufzunehmen. Das funktioniert natürlich am besten, wenn wir uns an der frischen Luft und im natürlichen Tageslicht bewegen.
Nach nur wenigen Wochen, in denen meine Patienten diese einfachen kleinen Änderungen in ihren Alltag integriert hatten, stellten die meisten fest, dass sie nun um einiges besser schlafen konnten, abnahmen und sich allgemein weitaus fitter fühlten. Zudem waren sie in der Lage, bessere, gesündere Entscheidungen zu treffen, wenn es um ihre Ernährung ging. Diese positiven Veränderungen kommen ganz ohne die Zuhilfenahme von Kräutern und anderen Behandlungen – Die Lebensart alleine ist als Behandlung genug.
In der Welt des Ayurveda halten wir uns gerne an folgendes Sprichwort: „Mit den richtigen Gewohnheiten braucht man keine Medizin. Ohne die richtigen Gewohnheiten, wird auch Medizin nichts ausrichten können.“ Indem wir stets ein Auge auf unseren Tagesablauf haben, können wir lernen, uns den natürlichen Rhythmen unseres Körpers wieder anzupassen, anstatt gegen sie zu leben. Der Körper ist wahrlich ein wandelnder Prozess und kein fixer Zustand, und schon mit etwas mehr Achtsamkeit im Alltag, können wir auch ohne große Mühen von einem gesunden Körper profitieren.
[1] T. Ronnenberg, et al. “Social Jetlag and Obesity,” Current Biology (May 22, 2012)): 939-43.
[2] M. Boubekri, IN Cheung, KJ Reid, C-H Wang, PC Zee. “Impact of Windows and Daylight Exposure on Overall Health and Sleep Quality of Office Workers: A Case-Control Pilot Study,” Journal of Clinical Sleep Medicine 10, no. 6 (2014) 603-11, doi:10.5664/jcm.3780.
[3] S. Gill, S. Panda, “A smartphone app reveals erratic diurnal eating patterns in humans that can be modulated for health benefits,” Cell Metabolism 22, no. 5 (2015): 789-98, doi:10.1016/j.cmet.2015.09.005.
Übersetzung: Marita Voithofer