Viele der hier für YOGA AKTUELL übersetzten Verse wurden noch nie zuvor in ihrem psychologisch-spirituellen Sinn ins Deutsche übertragen. Diesmal: die Symbolik von Nacht und Morgenröte. Nicht-Erkenntnis und Erkenntnis als zwei komplementäre Seiten der vedischen Verwirklichung – mit Echos in Tantra, Upanishad und Bhagavad-Gita.
In diesem Teil wollen wir uns einem zentralen Aspekt der vedischen Verwirklichung annähern, der in den späteren Zeitaltern entweder immer mehr in Vergessenheit geriet oder als zu schwer erreichbar betrachtet wurde und dadurch in den Hintergrund trat. Inzwischen wurden wohl die Extreme von totaler Weltverneinung bis zu reinem Materialismus voll ausgetestet, was es vielleicht gerade deshalb wieder möglich macht, von Neuem an der Integrierung von Geist und Materie mitzuarbeiten, denn darauf lief das vedische Opfer letztlich hinaus.
In Anknüpfung an die vorhergehende Folge kommen wir dazu noch einmal auf die Rolle von Usha, der göttlichen Morgenröte, zurück. Sri Aurobindo schreibt in „The Secret of the Veda“:
„Usha, die Tochter des Himmels, hat im Veda durchwegs immer dieselbe Aufgabe. Sie ist das Medium des Erwachens, der Aktivität und des Wachsens der anderen Götter; sie ist die erste Bedingung der vedischen Verwirklichung. Durch ihre zunehmende Erleuchtung wird die ganze Natur des Menschen geklärt; durch sie gelangt er zur Wahrheit, durch sie genießt er die Seligkeit. Die göttliche Morgenröte der Rshis ist die Ankunft des göttlichen Lichtes, das Schleier um Schleier abwirft und in des Menschen Aktivitäten die leuchtende Gottheit enthüllt. In jenem Licht wird das Werk getan, das Opfer dargebracht und seine begehrenswerten Früchte von der Menschheit gesammelt.”
Beim Lesen dieses Zitates mag uns auffallen, dass sich „Erwachen“ hier nicht – wie heutzutage meist – auf das Selbst, sondern auf das Wirken und Wachsen der Götter und „Erleuchtung“ auf „die ganze Natur“ des Menschen bezieht. Das Ziel ist dabei, dass Usha, die Göttin, in den „Aktivitäten“ des Menschen ihren Geliebten, die Sonne, die supramentale Gottheit, mit all ihren Bewusstseinsmächten, den Göttern, enthüllt. Diese höchste Gottheit ist „das Selbst des Beweglichen und des Unbeweglichen“. Sie stützt sich dabei auf „satya“, die Wahrheit des Seins, und auf „rta“, die schöpferisch-dynamische Wahrheit, die den Prozess der Manifestation des Höchsten in Gang setzt und regelt. Diese im Veda allgegenwärtige Rolle von Rta ist in der späteren Tradition, zusammen mit dem Begriff selbst, […]