Wissen mit beschränkter Haltbarkeit und schwankendem Niveau – Yoga auf der Text-Baustelle Wikipedia
Fast jeder kennt sie, viele nutzen sie, einige zweifeln an ihrer Substanz. Die Frage, ob es sich bei der Wikipedia tatsächlich um eine Enzyklopädie handelt, ist berechtigt. Der Berliner Fachjournalist und Yogabuchautor Mathias Tietke hat sich mit den Stärken und Schwächen der Online-„Enzyklopädie“ am Beispiel Yoga auseinandergesetzt.
Unbeständigkeit ist ein markantes Merkmal unserer Zeit. Kaum hat man sich den Namen einer neuen Band oder eines „Superstars“ gemerkt, ist sie (oder er) bereits wieder in Vergessenheit geraten. Und kaum hat man sich für ein neues Handy entschieden, gibt es bereits wieder bessere, schnellere, leistungsfähigere Modelle.
Bei einem Nachschlagewerk wie dem Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica kann man seit Jahrhunderten davon ausgehen, dass der darin gespeicherte Wissensstand über einen längeren Zeitraum Bestand hat. Im Grunde und in gedruckter Form trifft dies auch weiterhin zu. Bei Wikipedia, der 2001 gegründeten „freien Online-Enzyklopädie“, für deren Nutzung ein Internetzugang nötig ist und an dem sich auch viele Studierende und Journalisten orientieren, ist der Inhalt mitunter voller Fehler und die Haltbarkeit der Beiträge so flüchtig wie eine Kugel Eis bei 36 Grad Celsius. Ein gerade verfasster Beitrag wird in der Regel binnen Stunden bearbeitet (und immer wieder von neuen Versionen ersetzt), wobei etliche Artikel regelmäßig von Lobbyisten, von politischen Interessengruppen und von Vandalen (intern nennt man sie „Trolle“) manipuliert werden. Dies verleiht der Wikipedia den Charakter einer permanenten Baustelle, zu der uneingeschränkt jeder einen Zugang mit Arbeitserlaubnis hat und wo u.a. Abiturienten und Taxifahrer als Bauleiter fungieren. Dieser Zustand liegt in der Natur von Wikipedia, denn jeder, sei sie oder er qualifiziert oder nicht, kann neue Beiträge verfassen, Änderungen vornehmen, streichen, kürzen, ergänzen oder sonstwie Einfluss nehmen. Dies ist ein Vorzug hinsichtlich der Aktualität, aber ein Nachteil hinsichtlich der Qualität und Verlässlichkeit. Im günstigsten Fall ist der anonyme, sich hinter Kürzeln verbergende Verfasser kompetent und die Änderungen sind tatsächlich Verbesserungen. Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigt ein Blick auf die Wikipedia-Beiträge über Yoga und die Yogaperipherie.
Elf Punkte, zwölf Fehler
Der in elf Punkte untergliederte Hauptbeitrag zum Stichwort Yoga enthält trotz des relativ geringen Umfangs zwölf eindeutige Fehler. Allein aufgrund dieser Fehler lässt sich schlussfolgern, dass zum einen verschiedene Autoren an dem Beitrag geschrieben haben und dass es keine Endredaktion gab, somit auch kein Redigieren der Widersprüche und Ungereimtheiten. Bei der Definition des Begriffes „Yoga“ stimmt zu Beginn noch die Zuordnung „m“ für maskulin, wonach es folgerichtig „der Yoga“ heißen muss. Dies wird über mehrere Abschnitte umgesetzt, doch unter Punkt 7 („Yoga-Schulen und -Richtungen“) wird dann das Neutrum „das“ verwendet, womit der Yoga nach Sivananda zu „klassisches ganzheitliches Yoga“ wird, was nicht nur grammatikalisch falsch, sondern auch in der Aussage unzutreffend ist, denn Yoga nach Swami Sivananda ist, wie jener einst selbst, stark religiös gefärbt und dies nicht universell, wie so gern behauptet wird, sondern sich an der Götterwelt des Hinduismus orientierend, wobei der Bezug zum klassischen Yoga Sutra kaum eine oder keine Rolle spielt.
Nach einigen korrekten Formulierungen ist kurz darauf noch einmal die Rede von „das dynamische Jivamukti-Yoga“, danach geht es wieder korrekt maskulin weiter. Dies ist einer von zwölf Fehlern…
Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, an dieser Stelle sämtliche Irrtümer anzuführen und detaillierte Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, über die dann unter günstigen Umständen Xqbot, Itti, Werwohlf oder ein Wikipedia.de-Administrator befindet.
Der Mangel an Kompetenz und Fachkenntnissen zeigt sich im Grunde in allen Unterpunkten und Ausführungen, ganz gleich ob es sich um die Geschichte, die Philosophie und die Konzepte des Yoga handelt oder um Yogaschulen und Richtungen, Yoga und Gesundheit, Literatur oder die Weblinks.
Diffus und widersprüchlich
Nach der Klärung des Begriffs Yoga wird zu Beginn des Artikels pauschal und unzutreffend behauptet, in Europa würde es oft nur um körperliche Übungen gehen. Doch der gesamte Wikipedia-Beitrag hebt zum einen den religiösen Yoga beziehungsweise die religiösen Aspekte innerhalb des Yogaspektrums hervor und zum anderen wird unter der Überschrift „Das Yoga-Konzept“ (als gäbe es nur dieses eine Konzept!) festgestellt, dass es in den westlichen Ländern um Asanas, Phasen der Tiefenentspannung, Atemübungen und Meditationsübungen geht. Zudem wird Boris Sacharow als Vertreter des „klassischen ganzheitlichen Yoga“ und als Wegbereiter des Yoga in den Westen angeführt. Sind körperliche Übungen demnach zugleich ganzheitlich? Braucht es erst Reinkarnationsphantasien, damit aus einer physischen Übungspraxis „höhere“ spirituelle Philosophie oder gar östliche Weisheit wird? Aus dieser Gegenüberstellung (Yoga im Westen körperlich, Yoga im Osten geistig) ergibt sich die Frage, ob alles, was in Indien geschieht, per se geistig und weise und somit stets irgendwie philosophisch, transzendent und sowieso „älter als die Geschichte der Erde und der Menschheit“ (Bikram Choudhury) ist? Geht es auf dem indischen Subkontinent nicht um körperliche Übungen, die regelmäßig in All-India-Yoga-Competitions zur Schau gestellt und prämiert werden?
Worin sich Esoterik, Hinduismus und indische Philosophie in Bezug auf Yoga unterscheiden, wird in dem Wikipedia-Beitrag an keiner Stelle deutlich, es entsteht eher der Eindruck, dass es entweder keine Unterschiede gibt oder die Autoren dies nicht bedacht haben.
Der Mangel an (begrifflicher) Klarheit, Plausibilität und Differenzierung setzt sich leider auch bei den Kategorien Stil, Schule, Richtung und Tradition fort. Nachdem der stark religiös (genauer: hinduistisch) geprägte Sivananda Yoga erwähnt wurde, wird festgestellt, der Tibetische Yoga wäre dem gegenüber eine „stärker religiös ausgerichtete Yogaschule“. Gemeint ist jedoch keine spezifische Schule, sondern eine vom tibetischen Buddhismus gefärbte Traditionslinie, also ein ethnisch und geographisch geprägter Stil von marginaler Bedeutung, der ebenfalls religiös ausgerichtet ist, so wie der Sivananda Yoga, dessen in Nordeuropa und Westeuropa verbreitete Zentren auch den Zusatz Sivananda Vedanta Yoga tragen. Laut Wikipedia werden in den Volkshochschulen nun verschiedene „Yogaformen“ angeboten, de facto handelt es sich dabei jedoch stets um eine Form, nämlich um den an westliche Bedürfnisse angepassten Hatha Yoga.
Unterschiede? Fehlanzeige! Irgendwie ist doch alles Yoga, oder?
Wozu etwas unterscheiden, wenn ohnehin alles EINS ist, scheint man sich bei der Montage des Wikipedia-Beitrags gedacht zu haben. Aber eben da liegt das Kern-Problem des Beitrags zum Yoga und manch anderer Wikipedia-Einträge. Lieschen Müller mag sich ja so die Yogawelt vorstellen, doch von einer „Enzyklopädie“ bzw. deren Verfassern erwartet man als Nutzer einen ausgewogenen, qualifizierten und fachkundigen Überblick und kein Meinungsbildchaos auf dem Niveau einer Kaffeekränzchenrunde, wo nach dem Prinzip „Papa, Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt…“ Meinungen, Erkenntnisse und Glaubensbekenntnisse zusammengetragen werden.
Den eingangs erwähnten Charakter von Wikipedia als einer permanenten und von Aushilfskräften betriebenen Text-Baustelle hat auch der kurze Abschnitt über Yogalehrer. Unter dem Strich wird eine Qualifikation zwar als wünschenswert beschrieben, doch offenbar haben die Autoren angesichts verschiedener Vereine und Verbände selbst keinen Überblick über längst vorhandene Richtlinien und Qualitätsstandards sowie über entsprechende Abschlüsse und Anerkennungen. Das Gleiche trifft auf die ungeordneten Literaturhinweise zu, wo man sich offenbar gedacht hat: „Schreib doch irgend etwas hin, Hauptsache die Seite ist voll. Die Nutzung von Wikipedia kostet nichts, da kann keiner Kompetenz erwarten!“
Und so finden sich bei nahezu allen Yoga betreffenden Einträgen unter Wikipedia.de die gleichen Literaturangaben während gehaltvolle und aktuelle Werke fehlen beziehungsweise wieder gelöscht werden (zuletzt von „Durga“, der „Frau eines Hindu-Priesters“), wenn jemand Ergänzungen einträgt.
Faktor Zufall, Lobbyismus, Selbstdarstellung
Ob ein bestimmter Aspekt oder eine Persönlichkeit des Yoga (oder eben eine Veröffentlichung dazu) bei Wikipedia erwähnt und/oder berücksichtigt wird, hängt ganz davon ab, ob sich einer der Wikipedia-Autoren (in Deutschland derzeit rund 7000) beziehungsweise irgendein „nicht registrierter“ Anonymus sich mit einem Thema, einem Aspekt dieses Themas oder einer Person befassen mag oder ob Vertreter einer Schule bzw. Anhänger einer Lehre oder eines Lehrers (Guru) ihrem Ideal oder Idol einen Beitrag widmen bzw. am positiven Image der von ihnen bevorzugten Tradition arbeiten. Dabei und dadurch sind religiöse Gruppen und Personen mit missionarischem Sendungsbewusstsein überproportional stark vertreten, sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch hinsichtlich der kritikfreien Darstellung, während andere, nicht minder relevante Stile und Persönlichkeiten des Yoga gar nicht vorkommen oder lediglich am Rande erwähnt werden.
Trotz dieses Ungleichgewichts, das ein grundsätzliches Manko bei Wikipedia darstellt, gibt es durchaus auch interessante und ausgewogene Portraits (wie derzeit zum Beispiel zu Satya Sai Baba oder zu Michael Witzel), womit informative Lücken rasch gefüllt werden. Doch die Gewichtung (beispielsweise zwischen einzelnen Portraits) stimmt selten und die Lücken und Leerstellen sind mitunter gravierend.
Vorläufiges Fazit
Die (relativ) freie, vom Ansatz her basisdemokratisch agierende Internet-Plattform Wikipedia hat einen hohen Anspruch (Stichwort „Enzyklopädie“) und einen vergleichsweise geringen Qualitätsstandard. Es mangelt den Beiträgen allzu oft an Ausgewogenheit, an Vollständigkeit und Verlässlichkeit und den Autoren an Neutralität. Voraussetzung für eine Verbesserung wären Mitarbeiter mit einer gewissen Distanz zum Gegenstand ihrer Betrachtung und einem Mindestmaß an Allgemeinbildung und Fachwissen zu jenem Thema, das sie darstellen oder dessen Darstellung sie manipulieren. Dies ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu erwarten, zumal niemand für seine Einträge und die daraus resultierenden Eindrücke und Folgen verantwortlich zeichnet. „Autoren“ sind in dieser Konsequenz folglich „wir alle“ und somit (wieder einmal) niemand konkret und persönlich…
Aus all den angeführten Gründen sollte man Wikipedia-Beiträge mit äußerster Vorsicht und Skepsis rezipieren, sich an gelungenen und überprüfbaren Beiträgen erfreuen, aber dabei stets deren Unbeständigkeit, den Geltungsdrang der vielen anonymen Autoren und (natürlich) die „Trolle“ im Blickfeld behalten.
Im Yoga Sutra findet sich eine Richtlinie, die sowohl in Bezug auf Wikipedia als auch im Umgang mit sonstigen Informationen und Impressionen Sinn macht. Zu Beginn des ersten Kapitels heißt es, zitiert nach T.K.V. Desikachar in „Über Freiheit und Meditation“, Seite 25: „Richtige Wahrnehmung beruht auf direkter Beobachtung, auf Schlussfolgerungen und der Bezugnahme auf zuverlässige Quellen.“
Eine vortreffliche Orientierungshilfe für all jene, denen an richtiger Wahrnehmung gelegen ist, vor rund zweitausend Jahren schriftlich fixiert und einem Mann namens Patanjali zugeschrieben.