Beim jährlichen internationalen Kundalini Yoga Camp in Frankreich können die Teilnehmer eine intensive Erfahrung mit Weißem Tantra machen – ein Erfahrungsbericht
Haltet die linke Hand auf euer Herzzentrum und den Zeigefinger der rechten auf das dritte Auge eures Gegenübers. Schaut euch in die Augen. 62 Minuten lang. Ihr hört dabei das Mantra „Har haray haree wahe guru“. Das ist die Anweisung am dritten und letzten Tag des Weißen Tantra. Knapp 1200 rechte Zeigefinger legen sich auf das dritte Auge, den Punkt zwischen den Augenbrauen, ihres jeweiligen Partners. Was für ein Bild: Rund 1200 Menschen, von Kopf bis Fuß weiß gekleidet, sitzen im Schneidersitz in elf Zweierreihen in einem 50 Meter langen weißen Zelt, die rechten Arme erhoben. Doch zum Schauen ist keine Zeit. Für 62 Minuten verengt sich das Blickfeld auf das Augenpaar gegenüber. Wir konzentrieren uns auf uns selbst. Und ignorieren, so gut es geht, den Schmerz im rechten Oberarm, der jetzt, nach vielleicht vier Minuten schon, anfängt.
Drei Tage Weißes Tantra, davon hat mein Yoga-Lehrer voriges Jahr mit leuchtenden Augen berichtet, gerade vom weltweit größten Kundalini-Yoga-Festival im Park eines französischen Landschlosses zurück. Drei Tage lang in der Menge meditieren, oft mit erhobenen Armen, für 62 oder 31 Minuten möglichst in der gleichen Position verharren. Meditationen in solchem Mega-Maßstab veranstaltet die Yoga-Organisation 3HO sonst nur zwei Mal in den USA. An einer der Eichen rund um den Weiher auf dem großen, grünen Festival-Gelände hängt ein Plakat. „You will be tested“, steht darauf, daneben das Konterfei von Yogi Bhajan, dem Übervater des Kundalini-Yoga. Das sind keine leeren Worte: Niemals während dieser sonnigen Sommerwoche wird der Wille so sehr auf die Probe gestellt wie während der drei Tage Weißes Tantra.
Der Schmerz beginnt in der Schulter. Erfahrenere Yogis sagen, man müsse sie locker lassen. Aber wie, wenn man den Arm fast durchgestreckt vor sich hält? Anne, eine Mittvierzigerin aus Stockholm, sitzt mir ganz ruhig gegenüber, blickt sanft aus blauen Augen unter dem weißen Turban. Mein Arm zittert das erste Mal. Es heißt, mit Hilfe von Übungen, die schmerzhaft für die Schultern sind, verarbeite man Vaterkonflikte. Vom Band ertönt in schier endloser Wiederholung „Har haray haree wahe guru“. Wie viele Minuten wohl schon vergangen sind? Egal, der Arm bleibt oben!
„Wir suchen die Schmerzen nicht, weichen ihnen aber auch nicht aus“, sagt Tobias, 34, Yoga-Lehrer aus Frankfurt am Main. Wer die Schmerzen in den Yoga-Übungen und den Meditationen aushält, stärkt sich für den Alltag, für das Leben. Yoga macht ausgeglichener. Das sagen hier alle. Sie wollen Körper, Geist und Seele in Einklang bringen. Sind deswegen insgesamt rund 1500 Menschen aus ganz Europa zu diesem beschaulichen Ort in einem Wald im Loire-Tal gekommen? Anne, die Schwedin, spricht von „einer sehr gesunden Woche. Es ist gut, eine Woche lang Yoga zu machen und Diät zu halten.“ Daheim arbeitet sie in der Buchhaltung der schwedischen Telekom und lebt mit ihren beiden Kindern in einem ruhigen Stockholmer Vorort. Hier schläft sie in einem 50-Bett-Zimmer.
Eine Woche lang stehen Anne und viele der 1500 Festival-Besucher um vier Uhr früh auf. Zeit für die ersten Yoga-Übungen des Tages. Von umherziehenden Musikern sanft geweckt, tapsen sie aus den Schlafsälen und ihren Zelten in die Nacht und über Wiesen, die feucht sind vom Tau. Dann legen sie sich, manche im Schlafsack, auf Schaumstoffmatten, biegen ihre Wirbelsäulen durch, werfen Hände und Arme über den Kopf, strecken die Beine im schnellen Wechsel senkrecht in die Höhe und vor sich aus, atmen lang und tief oder hecheln wie ein gehetzter Hund. Über ihnen geht langsam die Sonne auf.
All die Verrenkungen und Anstrengungen in den gut 40 Workshops der ersten Tage, selbst in den anspruchsvollen beim populären Kundalini-Lehrer Karta Singh, wirken nun wie ein Aufwärmprogramm für das Weiße Tantra. Ob ein Drittel der Zeit schon rum ist? Ein paar Reihen weiter fängt eine Frau an zu weinen. Sie schluchzt laut, doch sie tut keinem leid. Je mehr sich Negativität und Trauer ihren Weg nach draußen bahnen, desto besser. So wird man sie vielleicht los. Ein Mann jault auf wie ein getretener Hund, noch eine Frau beginnt zu weinen, und aus den Augenwinkeln ist zu sehen, wie zwei kurz die Arme absetzen. Langsam fällt das Sitzen im Schneidersitz schwer. Mein Arm brennt. Schlimmer kann es nicht werden, du musst nur aushalten, sage ich mir. Am Tag zuvor haben wir das Mantra „Hammi hamm brahm hamm“ gesungen, drei mal 62 Minuten lang, knapp 750 Mal pro Meditation. Einmal sangen die Männer „Hammi hamm“, die Frauen antworteten „Brahm hamm“, es klang wie ein Froschkonzert. Hinterher haben alle gelacht. Ist ja auch erlaubt… Autsch, die Schulter verkrampft. Du hältst aus, weil du willst. Mach es wie Anne. Sie will, sie kann. Ein Drittel ist bestimmt geschafft. Denk nicht an den Arm.
Denk daran, wie gut es sich anfühlt, mit so wenig auszukommen. Jeden Morgen gibt es dasselbe zum Frühstück: dünne Kartoffelsuppe, zwei Bananen, zwei Orangen für jeden. Die Yogis lassen sich nieder zwischen Eichen und dem Weiher, auf der Schaumstoffmatte, die immer dabei ist, sie riechen das feuchte Gras und auch schon die Suppe, die freiwillige Helfer verteilen. Nach den Yoga-Sets am Mittag und Nachmittag kommen sie wieder, für die zweite und letzte Mahlzeit des Tages: Reis mit Mungbohnen und Salat. Zur Diät gehört, dass man viel Wasser trinkt. Abends, wenn Musikgruppen die immer gleichen Mantras spielen, wird noch Yogi-Tee ausgeschenkt. Zigaretten, Alkohol und Süßigkeiten sind tabu – und fast alle halten sich daran, wie eine leere Pizza-Schachtel in einem Abfalleimer verrät.
Und erstaunlich: Es fehlt einem an nichts. Eine Woche lang ohne Zigaretten, Alkohol, Süßigkeiten, Fleisch, Internet, Zeitung, Fernsehen, Telefon, Auto, Popmusik. Wichtig sind allein Schaumstoffmatte und Wasserflasche. Die Menschen reden viel miteinander hier, wenn sie nicht gerade wie der Frankfurter Friseur Mike Schweigetage einlegen. Er hat sich ein Schild umgehängt: „Honouring Silence“. Lalita, 36, Geschäftsfrau aus Moskau mit langen blondierten Haaren, berichtet, ihr habe Yoga über den Tod ihrer Mutter hinweg geholfen, mittlerweile unterrichte sie selbst. Sonst erzählt sie viel von Strandurlauben in der Türkei und Spanien, vom Skifahren in der Schweiz. Janne, die 16-jährige Schülerin, steht jede Nacht auf zum Früh-Yoga, spielt in ihrer Kleinstadt bei Hamburg aber lieber Fußball. Sie fährt seit sieben Jahren hierher, mit ihrer Mutter, die in der Sonne vor ihrem Zelt im Buch „Baum-Yoga“ liest. Janne nähert sich dem Ende des 1000-Seiten-Schmökers „Männer sind zum Küssen da“.
Was soll diese Selbstqual eigentlich? Ali, ein Psychologe, der seit Jahren zum Festival fährt, hat gesagt, bei ihm entfalte sich die Wirkung des Weißen Tantra erst Wochen später. Auch seine Freunde bemerkten die Veränderung. Au! Die Position des Arms zu verändern, lindert den Schmerz nur kurz. Die Beine tun weh. Ein Weinkrampf schüttelt den ganzen Körper. Lass es raus, aber den Arm oben. Lange kann es jetzt nicht mehr dauern.
Yoga-Lehrer Tobias sagt mit einem Grinsen im Gesicht: „Schon verrückt, dass wir das alle freiwillig mitmachen. Aber man fühlt sich einfach besser danach. Schon allein, weil es vorbei ist.“ Und stimmt, wie fröhlich die Leute sind! Sie singen von früh bis spät „Ong namo, guru dev namo“ und „Sat nam“ oder das diesjährige Leitmantra des Festivals, „I am the light of the soul“, ich bin das Licht der Seele. Sie essen Tag für Tag das Gleiche, verlassen eine Woche lang nicht die Wiesen um das Landschloss herum. Doch ihre Augen leuchten. Manche sehen aus, als habe ihnen gerade Yogi Bhajan persönlich die Hand aufgelegt. Sie lächeln sich an, ob sie einander kennen oder nicht. Das kann zunächst irritieren, dabei ist es doch freundlich, ein Zeichen von Miteinander.
„Die Menschen sind heute in ihrem Bewusstsein so beschränkt. Sie müssen es auf eine höhere Stufe heben, mehr kommunizieren und sich füreinander öffnen“, sagt Karta Singh, der Guru aus Grenoble, der wie alle Lehrer hier nach Art der Sikhs einen großen weißen Turban trägt. Einmal in seinem Workshop weist er die Besucher an, sich gut zehn Minuten lang mit den Ellbogen gegen die Rippen zu schlagen. „Das macht euer Ego klein. Ihr werdet nie mehr schlechte Laune haben.“ Er lacht, und der mächtige graue Bart unter seinem Kinn zittert.
Das Zittern wird stärker. Denk nicht an den Schmerz. Lächle, damit es besser geht. Leider geht es jetzt aber gar nicht mehr. Nach ungefähr 45 Minuten muss der Arm runter. Nur für eine kleine Weile. Der Schmerz ist augenblicklich weg. Wie gut das tut. Anne, die Schwedin, dehnt kurz den Hals, bleibt ansonsten ungerührt. In einer Ecke des Zelts lacht jemand auf. Der Wille zählt, sagen die Gurus. Und wieder hinauf geht der Arm, ein letztes Mal, ein paar Minuten noch. Als die Übung dann vorbei ist, fallen sich die Paare um den Hals. Dem Gefühl der Erleichterung folgt eine tiefe Genugtuung. Das Lächeln kommt nun von selbst. Später, als auch der dritte Tag des Weißen Tantra vorüber ist, sind die 1200 weiß gekleideten Menschen auf den Beinen. In dem weißen Zelt tanzen sie wie berauscht, berauscht von nichts anderem als sich selbst, singen das Mantra von der unerschöpflichen Lehrkraft, „Wahe guru“, wieder und wieder. Sie leuchten.