Action, Wettkampf, Leistung & schnelle Einverleibung? David Frawley über Yoga als Verlangsamung und Bewusstseinsvertiefung anstatt Körperfixierung und kontextlose Crashkurse.
Herr Frawley, schmerzt es Sie, wenn Sie sehen, was im Westen alles unter dem Etikett “Yoga“ firmiert? Sie gelten doch als Verfechter eines traditionellen, authentischen Yoga. Können Sie uns erklären, was das ist?
David Frawley: Also, zunächst einmal bedeutet Yoga nicht, etwas zusätzlich zu tun, sondern weniger zu tun, zu reduzieren. Asanas sind nicht als sportliche Übungen oder Wettkampf gedacht. Vielmehr geht es darum, eine Verlangsamung zu erreichen, den Körper ruhig werden zu lassen. Die Orientierung bei den Asanas liegt also nicht darin, eine spezielle Haltung auszuführen, sondern die Bewegungen des Körpers zur Ruhe zu bringen.
Yoga Aktuell: Viele Menschen versprechen sich vom Yoga aber, dass sie danach mehr erreichen können, effektiver handeln können etc.?
D.F.: Nun, in gewissem Sinne kann man ja durchaus mehr erreichen, indem man weniger tut. Denn wenn man zuviel macht, macht man oft nichts richtig. Die ganze Motivation im Yoga ist aber eine des Nicht-Tuns; sie liegt darin, weniger zu tun. Es gilt sich nach innen zu richten, nicht nach außen, und Energie zu konservieren und nach innen zu ziehen.
Y.A.: Was bedeutet das für die Sinne?
D.F.: Für unsere Sinne bedeutet es ebenfalls eine Entschleunigung. Auch der äußere Geist und seine Impulse werden zur Ruhe gebracht. Der Geist bewegt sich viel zu schnell. Speziell in der medien-basierten Welt – die medial vermittelten Sinneseindrücke sind extrem schnell, man denke z.B. an Filme. Das zerstört den Geist, man könnte sagen, es macht ihn schizophren. Und man wird ungeduldig. In der Natur verläuft nichts so schnell. Wenn man dann da draußen ist, kann man gar nicht stillsitzen: schließlich ist man gewöhnt, dass um einen herum ständig etwas passiert. Aber die Sonne braucht einen ganzen Tag um aufzugehen und wieder unterzugehen. Im Yoga geht es also darum, den Geist zu verlangsamen und ihn den Bewegungen der Natur anzupassen, also wegzukommen von der ganzen Hyper-Aktivität der Sinne. Wir Menschen haben uns eine künstliche Welt geschaffen. Was die physische Realität angeht, betrifft das z.B. auch das Essen – Junk Food, künstliches Zeugs, das uns nicht wirklich ernährt und uns nach immer mehr verlangen lässt. Statt einzusehen, dass wir das Falsche essen, verwechseln wir das Gefühl, nicht genährt zu werden, damit, nicht genug zu essen.
Y.A.: Aber wie bekommt man die fehlende Essenz zurück?
D.F.: Durch das, was mit der Natur verbunden ist, also bspw. durch natürlich angebaute Lebensmittel. Und was die Sinne betrifft, so ist jeder verhaftet in dieser medialen Welt, wo alles viel zu schnell läuft. Die Sinne werden überstimuliert, auch durch das schon erwähnte Junk Food, und sie stumpfen ab. Es ist, wie wenn man sich einem zu grellen Licht aussetzt, das einen blendet. Die optischen Inputs, die laute Musik… das alles führt dazu, dass man sich nicht mehr mit der Natur verbinden kann. Die Natur hat viel subtilere Reize, zum Beispiel viel subtilere Farbnuancen, Düfte oder Geräusche. Sie sind vielleicht nicht so dramatisch, aber sie haben eine ganz andere Fülle. Die Beschaffenheit der Blätter, der Wolken, das alles kann man auf einem Bildschirm nicht gut vermitteln. Dabei gehen die Dimensionen und die Tiefe verloren. Die Menschen sind also körperlich und seelisch mangelernährt und zugleich überstimuliert. Und sie versuchen dies zu kompensieren, indem sie immer mehr Junk Food und Junk-Eindrücke in sich hineinstopfen, die sie schwer und stumpf werden lassen. Sie werden zu Konsumenten, zu Zuschauern, die keine Lust auf kreative Aktivität haben. Selbst wenn wir in die Natur hinausgehen, tun wir dies in der Regel, um irgendeiner Beschäftigung nachzugehen, sei es Joggen oder Skifahrten etc. Oder man redet die ganze Zeit, anstatt innezuhalten. Durch Yoga muss man also erst einmal den Geist zur Ruhe bringen. Das ist auch die Voraussetzung für die Meditation. Man muss erstmal lernen, zu beobachten und wirklich Zeuge zu sein. Wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, zu reagieren und Teil dieses ganzen äußeren Phänomens zu sein. Zum Beispiel sieht sich jeder unter dem Zwang, zu allem eine Meinung zu haben. Die menschliche Kultur hat sich von der Natur isoliert und hat sich in extremen Aktionen und Reaktionen verfangen und ihr Inneres verloren.
Es hat Millionen von Jahren der Evolution gedauert, bis der Mensch an die Welt angepasst war, und nun wird er innerhalb weniger Generationen von dieser Welt in eine völlig andere verpflanzt – in eine, in der man keinen direkten Zugang mehr zu den Lebenskräften hat, sondern nur noch eine künstliche Umgebung.
Y.A.: Kann der Umgang mit Yoga hier etwas verändern?
D.F.: Yoga im ursprünglichen Sinne ist zunächst mal eine spirituelle Praxis und die tiefgehende Wissenschaft davon, wie man in Kontakt mit seiner eigenen Natur kommt; wie man den Geist beruhigt und auch Ruhe und Balance in den Körper bringt. Yoga hat sehr viel mit dem Lebensstil zu tun. Es geht nicht nur um Asanas, sondern auch um die Yamas und Niyamas, um eine ethische, natürliche, spirituelle Lebensführung. Yoga hilft, ein Leben zu leben, das stärker in Harmonie mit dem größeren Universum ist. Somit fügt sich Yoga sehr gut in dieses Schema ein. Aber was in unserer modernen Welt geschieht, ist ähnlich wie mit der Nahrung und der Medizin – auch Yoga wird reduziert und oft auf ein rein physisches Modell beschränkt. Die Leute denken, Yoga hieße, Asana-Klassen zu besuchen. Und vielleicht mehr yogische Dinge zu tun… wo Yoga doch eigentlich Teil des Prozesses ist, weniger zu tun – weniger zu konsumieren, bewusster zu sein, konzentrierter zu sein, sich körperlich und geistig langsamer zu bewegen und dabei in seinem Tun eine höhere Bewusstheit zu erreichen.
Y.A.: Also wird man nicht unbedingt ein besserer Yogi, wenn man jeden Tag zwei oder drei Asana-Klassen besucht?
D.F.: Nun ja, wie definieren Sie Yogi? Ein Yogi ist vermutlich jemand, der bewusster ist und der die Kunst des Gleichgewichts beherrscht. Yoga bedeutet Integration und Harmonisierung der diversen Einflüsse im Leben. Eines der großen Probleme ist, dass unser Leben so viele verschiedene Aspekte enthält: physische, emotionale, soziale, kreative, spirituelle… es gibt ein Familienleben, ein Berufsleben, ein politisches Leben usw. Beim Yoga geht es auch darum, eine Balance und Harmonie zwischen ihnen allen herzustellen und jedem Aspekt seinen Platz zu geben. Yoga ist also nicht eine einzige Sache, sondern eine Weg, Harmonie in all das zu bringen, was wir tun. Daher hat man im klassischen System ja auch die acht Glieder, die jeden Bereich einbeziehen. Yoga ist demnach ein vielseitiges, integratives Modell, das uns hilft, mit dem Leben umzugehen. Man muss fähig sein, eine zugrunde liegende Harmonie und Einheit zu erschaffen, aber gleichzeitig mit vielen Dingen zu hantieren. Es ist vergleichbar mit einem Baum: er hat nur einen einzigen Stamm, aber viele Äste, Blätter, Blüten und Früchte. Der eigentliche Zweck des Yoga ist insbesondere, uns zu helfen, mit den Kräften der Natur in Einklang zu kommen und mit den tieferen spirituellen Kräften.
Y.A.: Sie haben mal gesagt, dass Sie etwa eine Stunde körperliche Praxis täglich empfehlen.
D.F.: Ja, eine Stunde ist eine gute Regel. Der Körper braucht nicht den ganzen Tag Bewegung. Wenn man den ganzen Tag mit Üben verbringt, fixiert man sich vielleicht zu stark auf das Körperliche. Und wie schon gesagt, geht es bloß um eine Entschleunigung; es geht darum, den Körper in einen Zustand zu versetzen, in dem man Pranayama und Meditation ausüben kann, die ja einen Großteil des Yoga ausmachen. Asanas sind ein Teil des Yoga, aber nicht dessen Essenz. Ein Mittel, aber nicht das Ziel. Yoga endet nicht mit den Asanas. Es gab viele große Yogis, für die Asanapraxis kaum eine Rolle spielte. Sobald sie die Sitzhaltungen gemeistert hatten, saßen sie in Meditation und es bestand gar keine Notwendigkeit, mit den Asanas fortzufahren.
Yoga definiert sich nicht nur über die Asanas und nicht einmal über Pranayama – es zählen ja auch Meditation, Bhakti Yoga, Jnana Yoga, Kriya Yoga, Kundalini Yoga und vieles mehr dazu. Es sind vor allem die inneren Praktiken. Und dazu reicht eine Sitzhaltung vollkommen aus. Weder Yogananda oder Swami Vivekananda noch Sri Aurobindo oder Ramana Maharishi waren Asana-Lehrer. Bei vielen großen Yogis war es so, dass sie zwar an einem gewissen Punkt auf ihrem Weg Asanas geübt haben, aber sie haben sie nicht als das Wesentliche betrachtet. Von einem religiösen Oberhaupt würden Sie ja auch nicht erwarten, dass er sich in Shorts auf den Boden begibt und Übungen mit Ihnen macht. Vom Papst zum Beispiel würde man das nicht erwarten (lacht). Und die Yogis, von denen wir sprachen, sind ja auch spirituelle Persönlichkeiten. Manche von ihnen, wie Yogananda, haben vor allem Asanas praktiziert, als sie jünger waren. Um körperlich stark und ausdauernd zu werden und flexibel zu bleiben und auch um die physische Energie zu beruhigen. Aber es war nicht der eigentliche Fokus.
Man sollte zwischen dem inneren und dem äußeren Yoga unterscheiden. Beim äußeren Yoga geht es um körperliches Wohlbefinden und um Gesundheit, der innere Yoga ist auf spirituelle Entwicklung ausgerichtet. Dharana, Dhyana, Samadhi, das war immer das Wesentliche. Der äußere Yoga war vorbereitend. Heutzutage wenden sich die Leute hingegen hauptsächlich dem äußeren Yoga zu. Und selbst beim äußeren Yoga beschränken sie sich maßgeblich auf die Asanas, während Yamas und Niyamas sowie auch Pranayama und Pratyahara in den Hintergrund treten. Yoga wird also mit dem äußeren Yoga gleichgesetzt und dieser wiederum mit den Asanas. Letztere haben zweifellos ihren Platz, jedoch sind sie nur eine Komponente von vielen. Wenn man sie mit dem Ganzen verwechselt, wird es problematisch. Das ist so ähnlich, als baut man nur einen Rohbau, aber kein Haus.
Wenn wir heute von „Yogatraditionen“ sprechen, reden wir meistens über moderne Asana-Yogastile. Es spielt überhaupt keine Rolle, welchen Asana-Stil man betreibt, Hauptsache der Körper bekommt seine angemessene Praxis, um Stress abzubauen, ruhig zu werden und die Fixierung auf den Körper abzulegen. Und es geht nicht etwa darum, diese Fixierung zu verstärken und Anspannung und Stress zu verursachen, weil man die Asanas möglichst gut ausführen möchte! Das Ziel von Yoga ist nicht, ein Gymnastikmeister oder Zirkusartist zu werden. Es ist auch weniger eine Frage dessen, was man tut, sondern vielmehr dessen, wie man es tut. Es gibt solche, die gut in den Asanas sind und sich darauf ziemlich was einbilden, und das ist nicht Yoga. Es gibt auch welche, die gut in den Asanas und trotzdem demütig sind – das ist schon eher Yoga. Und dann gibt es natürlich auch welche, die gar nicht gut in den Asanas sind, und deshalb müssen sie trotzdem noch längst keine schlechten Yogis sein. Darum kann man Yoga ja auch in jedem Alter praktizieren. Wenn man älter wird und bestimmte körperliche Einschränkungen hat, dann ist Yoga schließlich nicht dazu da, einem ein schlechtes Gefühl einzujagen, weil man keinen gebundenen Lotossitz, kein Mayurasana und keine Kopfstand hinbekommt. Yoga soll einen auf eine tiefere Bewusstseinsebene bringen.
Y.A.: Was halten Sie davon, dass das Yoga Sutra von Patanjali im christlich geprägten Westen gerne als Bibelersatz des Yoga hochgehalten wird? Viele sehen die darin enthaltenen Weisheiten als unumstößliche Wahrheiten an.
D.F.: Das Yoga Sutra ist ein wichtiger Text. Aber viele Leute missverstehen es, viele studieren es auch nicht in der richtigen Weise. Es definiert Yoga klar als Meditation. Citta-vrtti-nirodhah – es definiert Yoga nicht als Asanas. Es gibt zwei Sutras über Asanas und als deren Hauptanliegen wird Entspannung genannt… Entspannung außerhalb des Körperbewusstseins, nicht eine Erhöhung des Körperbewusstseins. Es lehrt Meditation, Hingabe, Selbstdisziplin; es handelt viel von spirituellen Werten und Praktiken und es basiert auch auf einer Philosophie: es handelt über das Wesen des Purusha, das höhere Selbst, Gott. Das Yoga Sutra ist außerdem ein gutes Textbuch, das die Hauptansätze des Yoga darstellt, aber es ist nicht das erste, letzte und einzige Buch über Yoga. Es gibt tausende von Yogabüchern; unzählige, die aus Indien kommen und Yogalehren enthalten, die älter als das Yoga Sutra sind, und natürlich auch die Bücher moderner Yogameister. Das Yoga Sutra ist ein guter Text, aber man muss es richtig verstehen. Und es ist Teil der Literatur.
Die Begriffe des Yoga Sutra wurden auch in anderer Literatur verwendet und haben eine ganz spezifische Bedeutung. Svadhyaya, tapas – es gibt jede Menge Literatur zu diesen Begriffen. Eines der Probleme heutzutage ist, dass die Leute diese Begriffe und das Sutra einfach isolieren und sie aus dem Kontext der Literatur heraus reißen, in dem man sie versteht. Doch das Yoga Sutra ist kein komplettes System; es ist eine Liste von Themen und nicht dazu gedacht, ohne einen Kommentar verstanden zu werden. Manche Leute nehmen diese Begriffe wie Kapitelüberschriften und anstatt die Literatur zu studieren, erfinden sie ihre eigene Bedeutung oder verändern den Bedeutungsgehalt der Begriffe.
Y.A.: …oftmals innerhalb eines Wochenendseminars.
D.F.: Ja, ursprünglich wurde Yoga halt nur an diejenigen weitergegeben, die bereits ein gewisses Maß an Bewusstheit und Konzentration erreicht hatten. Er gehörte nicht zu den Dingen, die für jeden jederzeit verfügbar sind… Sagen wir mal, Sie wollen Künstler werden, z.B. Klavierspieler. Dann machen Sie ja auch nicht einfach einen Wochenendkurs oder vielleicht einen einmonatigen Intensivkurs und geben dann Konzerte oder unterrichten. Aber so machen die Leute das inzwischen im Yoga. Dabei ist es doch eigentlich wie in jedem anderen Bereich: man geht doch auch nicht zur Uni und kann nach einem Monat graduieren. Aber viele wollen nach einem Monat Lehrer werden, viele sind in einem bestimmten Asanastil unterrichtet worden und sie denken, das ist Yoga.
Y.A.: Vielen Dank für das Interview.
David Frawley ist ein wahrer Meister. Hundertprozentige Zustimmung zu seinen Aussagen, auch wenns die eigentlich nicht braucht. OM Shanti
Ein absolut lesenswerter Artikel. Und ich bin sehr glücklich darüber, dass es solche Artikel noch gibt, denn diese Worten beschreiben doch den wahren Schatz des Yoga. Vielen Dank!