Im ersten Teil beschreibt die Autorin, wie extrem Menschen im heutigen Arbeitsleben teilweise über ihre Grenzen gehen. Im zweiten Teil geht sie auf das so genannte „Hirndoping“ ein, mit dem viele ihre Leistungsfähigkeit zu pushen versuchen.
Ab und an dringen Meldungen bizarren Inhalts aus den Highspeed-Arbeitswelten des internationalen Bankings an die Öffentlichkeit. So im August 2013: Ein 21-jähriger deutscher Praktikant der Bank of America in London sei tot in seinem Wohnheim aufgefunden worden. Noch bevor die Todesumstände geklärt sind, entzündet sich eine Debatte um die Arbeitsbelastung der Investment-Banker. Der tote Praktikant soll vor seinem Tod von 14 Nächten acht ohne Schlaf verbracht haben. Wer dazugehören will, arbeitet eben mit Ganzkörpereinsatz. Öfter mal eine Nacht durchzuziehen, gehört zum guten Ton. Der „Magic Round-about“– morgens früh nach der Arbeit ins Taxi, duschen, umziehen und mit dem gleichen, noch wartenden Taxi wieder zurück ins Büro – ist ein Ritual, dessen Praxis den geistig und körperlich gestählten Junior-Karrieristen auszeichnet und mit Stolz erfüllt. Allerdings ist davon auszugehen, dass nur wenige Helden dieser Parallelwelt das Soll an körperlicher und geistiger Leistung allein unter Zuhilfenahme ihrer natürlichen Ressourcen erfüllen können. Vielmehr muss man annehmen, dass ein Großteil von ihnen immer mal wieder auf chemische oder pharmakologische Schubkraft in Form leistungssteigernder Substanzen zurückgreift, um den Anforderungen dieser speziellen Lebenswelt gerecht werden zu können.
Schöne neue Arbeitswelt
Zum Glück hat das alles mit uns nichts zu tun. Wir sind schließlich keine Investment-Banker! Und doch treibt auch die Arbeitswelt „des ganz normalen Menschen“ in den letzten Jahren einige sehr sonderbare Blüten: Menschen arbeiten ohne Rücksicht auf Verluste, verzichten auf Pausen, nehmen Arbeit mit ins Wochenende und in den Urlaub oder gehen gar krank zur Arbeit. Die „urbanen Legenden“, die sich um Begebenheiten aus dem Leben des so genannten ganz normalen Arbeitnehmers ranken, klingen dann eher so: Drei Angestellte einer gesetzlichen Krankenkasse lassen sich – jeder heimlich und auf eigene Faust – Nachschlüssel zu ihrem Büro anfertigen, um am Wochenende die Aktenberge abzutragen, für welche die reguläre Arbeitszeit nicht reicht. Die Sache fliegt auf, als die drei eines schönen Sonntags im Büro aufeinandertreffen. Bis dahin hatte jeder geglaubt, der Einzige zu sein.
Gute Gründe für den rasenden Lauf in den Abgrund?
In der Konsequenz werden Erschöpfungszustände ignoriert und mit eisernem Willen verbleibende Energiereserven aktiviert. Über kurz oder lang führt dies dazu, dass die Wahrnehmung der natürlichen Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit verkümmert oder vollständig verloren geht. Dies ist einer der ersten entscheidenden Schritte in Richtung Burn-out. Das Tückische an einer solchen Entwicklung ist, dass es zunächst einmal gute Gründe für dieses auf den ersten Blick verantwortungsvolle und engagierte Verhalten zu geben scheint: In Zeiten des strukturellen Wandels und der radikalen Ökonomisierung scheint die Gesellschaft ja geradezu darauf angewiesen zu sein, dass es beispielsweise in den Bereichen Medizin, Soziales oder Bildung Menschen gibt, die auch unter widrigen Umständen und unter Aufbietung aller persönlichen Kräfte den Betrieb bei Einhaltung akzeptabler Minimum-Standards am Laufen halten. Und auch die Mitarbeiter in Unternehmen, die sich Prozessen der indirekten Steuerung unterworfen sehen, scheinen durchaus rationale Argumente für ihr gesundheitsschädigendes Engagement zu haben.
Erfolg als scheinbare Normalität
Was ist los mit diesen Menschen? Welche Motive stehen hinter dieser bis vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbaren Arbeitswut? Dass die Stressbelastung am Arbeitsplatz stetig steigt, ist kein Geheimnis. Globalisierte Märkte und die Verpflichtung zur permanenter Verfügbarkeit auf allen medialen Kanälen sind nur zwei stressfördernde Faktoren der schönen neuen Arbeitswelt. Hinzu kommen Prozesse indirekter Steuerung, die den Erfolgsdruck dramatisch erhöhen (s. Kasten). Mit Hilfe von Rankings wird Konkurrenz zwischen Kollegen geschürt. Durch das permanente betriebsinterne Kommunizieren von Erfolgsgeschichten werden Leistung und Erfolg zur Norm erhoben, von der nicht abgewichen werden darf. Wer hier nicht mithalten kann, hat in den meisten Fällen schon bald nicht nur ein Jobproblem, sondern auch ein Problem mit seinem Selbstwertgefühl.
Doch auch innerhalb klassischer Institutionen der Schulmedizin raten Experten vom Medikamentengebrauch bei Burn-out dringend ab und machen auf die gerade in diesem Kontext so hilfreichen Wirkungen von Praktiken wie Yoga, Achtsamkeitspraktiken und Meditation aufmerksam.
Identifikation mit der Leistungsideologie
Die Gefahr, „in ein Burn-out reinzurutschen“ ist auch deshalb so groß, weil es sich eben nicht im eigentlichen Sinn um eine Krankheit handelt, sondern, wie Prof. Dr. Volker Arolt, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitäts-Klinikum Münster, sagt: „um einen Lebensprozess, der über mehrere Stufen verläuft“ (s. Kasten). Arolt sieht für das geradezu epidemische Umsichgreifen des Burn-out-Syndroms jedoch nicht allein die äußeren Bedingungen der Arbeitswelt als Ursache, sondern auch die weit verbreitete Neigung, sich voll und ganz mit der in diesem Bereich kultivierten Leistungsideologie zu identifizieren. „Viele Menschen glauben: ‚Ich bin nur dann etwas wert und werde nur dann von meiner Umgebung geschätzt, wenn ich ein leistungsfähiger Mensch bin, der Geld verdient, immer gut drauf ist, nebenbei noch Sport macht, eine tolle Ehe führt, großartige Kinder hat und einfach auf allen Ebenen die maximale Performance bringt‘“, so Arolt. Der auf diese Art von äußeren Bedingungen und innerer Einstellung genährte Leistungsdruck treibt immer mehr Menschen dazu, Erschöpfungszustände, die als „unzulässig“ erlebt werden, zu ignorieren – und im Zweifelsfall auf chemische Hilfsmittel zurückzugreifen, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden.
Hirndoping
Die Einen gehen zum Arzt und lassen sich Schlafmittel oder Antidepressiva verschreiben. Andere treibt der Wunsch, wieder leistungsfähig zu werden oder es zu bleiben, dazu, sich hochpotente Psycho- und Neuropharmaka auch ohne Rezept zu besorgen. Die DAK hat dieses Phänomen unter dem Titel „Doping am Arbeitsplatz“ zum zentralen Thema des Gesundheitsreports 2009 gemacht (s. Kasten). Der damaligen Erhebung zu Folge dopten nach eigenen Angaben rund 5 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 20 und 50 Jahren. Einen ähnlichen prozentualen Anteil von „Hirndopenden“ ermittelte eine HIS-Studie im universitären Umfeld. Laut der Befragung von 2010 betreiben 5,3 Prozent der Studierenden zumindest gelegentlich Hirndoping. Eine wenig später an der Uni Mainz durchgeführte Studie legt jedoch nahe, dass in Wahrheit der prozentuale Anteil der Hirndopenden unter den Studierenden sehr viel höher liegt. Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Studien wurde hier eine Fragetechnik verwendet, die den Studienteilnehmern eindeutig und erkennbar absolute Anonymität zusicherte. Der Anteil der Befragten, die innerhalb des letzten Jahres gezielt Medikamente oder illegale Drogen mit dem Ziel der geistigen Leistungssteigerung eingenommen hatten, denen die Medikamente jedoch nicht wegen einer Erkrankung verschrieben worden waren, lag bei Anwendung dieser Fragetechnik mit Anonymitätsgarantie (RRT = Randomized Response Technique) bei 20 Prozent und damit viermal so hoch wie in den vorhergehenden Studien, bei denen sich die Probanden der Anonymität der Ergebnisse weniger sicher sein konnten. Es ist wahrscheinlich, dass auch die Dunkelziffer der erwerbstätigen Hirndopenden hoch ist.
Überraschende Motive?
Überraschendes Ergebnis der HIS-Studie zum Doping an Universitäten: Das meistgenannte Motiv für die Einnahme leistungssteigernder Mittel durch Studierende ist nicht die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit, sondern die Bekämpfung von Nervosität (48 %). Entsprechend ist Hirndoping auch besonders verbreitet unter denjenigen Studierenden, die neben ihrem Studium besonderen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt sind, zum Beispiel nebenbei arbeiten oder familiäre Probleme und somit Schwierigkeiten mit der effizienten Prüfungsvorbereitung haben.
Die Ergebnisse des DAK-Reportes weisen in die gleiche Richtung. Es zeigt sich hier, dass Doping am Arbeitsplatz als umso vertretbarer eingeschätzt wird, je mehr die eigene Arbeitssituation durch Stress, Konkurrenzdruck und Arbeitsplatzunsicherheit belastet ist. Durch Hirndoping einen „Wettbewerbsvorteil“ gegenüber konkurrierenden Kollegen zu erzielen, ist nur für vier Prozent der Befragten ein vertretbares Motiv für die Einnahme leistungssteigernder Medikamente. Nur 13 Prozent der im DAK-Gesundheitsreport befragten Hirndoper gaben an, die viel diskutierten Präparate zur Behandlung von ADHS zur Steigerung von Aufmerksamkeit und Konzentration im Arbeitsalltag zweckzuentfremden. Dagegen lagen Präparate gegen Angst, Nervosität und Unruhe mit 44 Prozent an der Spitze, gefolgt von Mitteln gegen depressive Verstimmungen mit 35 Prozent. Es sei nochmals daran erinnert, dass beide Symptome typisch für einen fortgeschrittenen Burn-out-Prozess sind.
Hirndoping zur Kompensation des Leistungsdrucks?
In der überwiegenden Zahl der Fälle scheint Hirndoping also mit Überforderungssituationen und einem recht ausgeprägten Leidensdruck verbunden zu sein – zwei Phänomene, die den erwähnten Studien zufolge in Deutschland weit verbreitet sind. Entsprechend ist die prinzipielle Bereitschaft, unter bestimmten Voraussetzungen Hirndoping zu betreiben, in der deutschen Bevölkerung relativ hoch. So erscheint 25 Prozent der Befragten des DAK-Reports die Möglichkeit, Konzentration und Gedächtnis im Beruf zu steigern, ein vertretbarer Grund für Hirndoping. Immerhin 60 Prozent der Befragten des DAK-Reports gaben jedoch an, dass die Einnahme von Medikamenten zur Steigerung der Leistungsfähigkeit für sie nicht infrage komme. Von den in der Mainzer Studie befragten Schülern zwischen 18 und 21 Jahren waren es hingegen nur noch zehn Prozent, die angaben, sie würden unter keinen Umständen Hirndoping betreiben.
Hirndoping – der schnelle Weg zum Burn-out
Experten aus den Bereichen Medizin, Psychatrie und Psychotherapie sehen hingegen in der Einnahme von Psycho- und Neuropharmaka zur Kompensation des Leistungsdrucks nicht nur eine untaugliche Strategie, sondern auch ein Risiko, den Burn-out-Prozess zu beschleunigen und zu verschärfen.
Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Mainzer Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, der intensiv zum Thema Hirndoping forscht, weist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit der Entstehung eines gefährlichen Teufelskreises hin: Zwar stelle Hirndoping eine Möglichkeit dar, kurzfristig Kraftreserven zu mobilisieren und zum Beispiel Müdigkeit zu überwinden. Allerdings werde durch die Medikamente neue Anspannung erzeugt, Ruhephasen blieben aus, und der Burn-out-Prozess würde aufrechterhalten anstatt beseitigt. Sein Fazit lautet, dass die Entwicklung psychischer Störungen durch Hirndoping vermutlich indirekt gefördert werde. Dr. med. Gabriele Fröhlich-Gildhoff, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Chefärztin der psychosomatischen Abteilung der Habichtswald-Klinik, argumentiert in eine ganz ähnliche Richtung: „Viele Patienten kommen in unsere Klinik mit der Diagnose ‚Depressive Episode‘ oder ‚Anpassungsstörung‘, etwa die Hälfte von ihnen ist aufgrund beruflicher Überlastung erkrankt, und viele von ihnen sind mit Antidepressiva oder angstlösenden Mitteln vorbehandelt. Wir bemühen uns dann in aller Regel, die Medikamente in Absprache mit den Patienten abzusetzen. Psycho- und Neuropharmaka sind in diesen Fällen eine untaugliche Krücke, da sie die Wahrnehmung der Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit verwischen.“ Bei einer Burn-out-Therapie müsse es jedoch darum gehen, die Wahrnehmung eben dieser Grenzen wieder neu zu erlernen. In der sehr ganzheitlich orientierten Habichtswald-Klinik sind deshalb u.a. Praktiken wie MBSR und Yoga integraler Teil des Behandlungsprogramms. Doch auch innerhalb klassischer Institutionen der Schulmedizin raten Experten vom Medikamentengebrauch bei Burn-out dringend ab und machen auf die gerade in diesem Kontext so hilfreichen Wirkungen von Praktiken wie Yoga, Achtsamkeitspraktiken und Meditation aufmerksam. „Durch die voreilige Einnahme von Schlafmitteln, Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und anderen Pharmaka werden stressassoziierte Erschöpfungszustände und die damit einhergehenden körperlichen und psychischen Beschwerden verdeckt, die andernfalls als Alarmsignale für einen beginnenden Burn-out-Prozess dienen könnten“, warnt Volker Arolt vom Uniklinikum Münster. Für Arolt ist dies eine häufig anzutreffende Spielart der typischen Verhaltensweise burn-out-gefährdeter Menschen, ihrer Erschöpfung mit verstärkter Willensanstrengung begegnen zu wollen. Ein Versuch, der meist fehlschlägt. Klug wäre es, stattdessen im Moment der Erschöpfung innezuhalten und die eigene Arbeitssituation sowie die eigenen Lebensziele noch einmal genau in Augenschein zu nehmen. „Methoden wie Yoga und Achtsamkeitsmeditation sind in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen sehr empfehlenswert“, erläutert Arolt: Für Burn-out-Patienten ist das Bewusstsein für körperliche und geistige Funktionen und
Prozesse, welches man durch Yoga entwickelt, ungemein wichtig. Es ist die Grundlage, um sich entspannen zu können und sich so auch während der Arbeitszeit aus Stresssituationen herausnehmen zu können. Ein weiterer sehr wichtiger Effekt ist, dass man sehr aufmerksam wird für das, was einen belastet, und dafür, wie diese Belastungen zustande kommen. Damit hat man seine Probleme zwar noch nicht aus der Welt geschafft, aber das Bewusstsein dafür, welche Situationen einem mehr und welche weniger Stress bereiten, sind die Voraussetzung um – zum Beispiel mit Hilfe eines Coachings – lernen zu können, bewusst zu entscheiden, welche Anforderungen man annehmen will und welche nicht.
Indirekte Steuerung und interessierte SelbstgefährdungUnter Indirekter Steuerung versteht man eine Führungskultur, innerhalb derer der Arbeitnehmer von der Firmenleitung vorgegebene Ziele in weitgehend selbstständiger und eigenverantwortlicher Arbeitsweise erreichen soll. Kontrollen der Anwesenheit und der Erfüllung des Arbeitssolls fallen weitgehend weg, die Leistung des Arbeitnehmers wird nur an seinem Erfolg gemessen. Dieser im Prinzip positive Ansatz entwickelt eine zerstörerische Eigendynamik, wenn die vorgegebenen Ziele sich nicht nach der Machbarkeit, sondern nach Marktlage und Wettbewerbssituation richten. Der in dieser Form „indirekt gesteuerte“ Arbeitnehmer beginnt, wie ein selbstständiger Unternehmer innerhalb des Unternehmens zu handeln. Wo allein das Erreichen der vorgegebenen Ziele Existenzsicherung verspricht, sind die Arbeitnehmer bereit, alles zu geben und selbst ihre Gesundheit in die Waagschale zu werfen. Dieses Phänomen bezeichnen Wissenschaftler wie Andreas Krause und Klaus Peters als „interessierte Selbstgefährdung“. Wandel der Führungskultur – vom Krokodil am HorizontDer Philosoph Klaus Peters umschreibt den aktuellen Wandel der Führungskultur als Übergang vom Modell Pistole (der Vorgesetzte wacht über die Mitarbeiter, wer den Befehlen nicht nachkommt, wird sanktioniert, also „erschossen“) zum Modell Krokodil. Beim Modell „Krokodil“ findet keine Überwachung der Mitarbeiter durch den Vorgesetzten mehr statt. Diese werden nun diszipliniert durch das „Krokodil am Horizont“. Das Krokodil steht für jene existenzielle Bedrohung, welche jederzeit in Form von Firmenpleite, Fusion, Übernahme oder Outsourcing über die Belegschaft hereinbrechen kann – aber auch für die Befürchtung, bei zu wenig nachweisbaren Erfolgen bei der nächsten Rationalisierungswelle als Erster über die Klinge zu springen. |
Burn-outBurn-out ist ein stressassoziierter Prozess, der über die Stadien von emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation (im Sinne einer starken Persönlichkeitsveränderung, z.B. Wandel vom engagierten Idealisten zum demotivierten Zyniker) und Leistungsminderung bis zu dem Punkt führt, an dem ein Mensch ernsthaft krank wird. Auf seelischer Ebene geht es dabei vor allem um somatoforme Störungen – z.B. medizinisch nicht eindeutig erklärbare Kopf-, Rücken- oder Bauchschmerzen, um Angststörungen und Depressionen oder um eine Kombination all dieser Beschwerden. Eine typische Verhaltensweise burn-out-gefährdeter Menschen ist es, Erschöpfungszustände zu ignorieren und durch verstärkte Willensanstrengung das Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Im Verlaufe dieses Prozesses geht die Fähigkeit zu Wahrnehmung der Grenzen der persönlichen Leistungsfähigkeit mehr und mehr verloren. Durch die Einnahme von Psychopharmaka – sei es zur Steigerung von Konzentration und Aufmerksamkeit, oder um die oft mit einem Burn-out einhergehenden Angstzustände und depressiven Episoden in den Griff zu bekommen – werden Leistungsgrenzen weiter verwischt; eine Entwicklung, die nicht nur tragisch für den Einzelnen ist, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene eine erschreckende Relevanz haben könnte. |
Definition Hirndoping
Unter Hirndoping versteht man den Versuch gesunder Menschen, die Leistungsfähigkeit des Gehirns durch die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten zu verbessern. Dabei ist die Einnahme nicht medizinisch indiziert, die Substanzen wurden nicht ärztlich verordnet, und der Konsum erfolgt nicht aus Genussgründen.
Die Leistungen des Gehirns, die durch Hirndoping verbessert werden sollen, betreffen, grob gesagt, drei Bereiche:
- Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration,
- Lernen und Gedächtnis,
- Stimmung und Kontaktfähigkeit mit anderen.
Medikamente zur Steigerung von Wachheit, Konzentration und Aufmerksamkeit
Amphetamine wie Dexedrine® oder Adderal® werden therapeutisch zur Behandlung von ADHS eingesetzt. Bei gesunden Menschen bewirken sie eine Steigerung von Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration, insbesondere dann, wenn die Leistungsfähigkeit durch Müdigkeit eingeschränkt ist.
Ein weiteres Medikament, das gerne zum „Hirndoping“ eingesetzt wird, ist Methylphenidat. Unter dem Handelsnahmen Ritalin® vertrieben, wird es medizinisch ebenfalls zu Behandlung von ADHS eingesetzt. Bei gesunden Menschen steigert es die Wachheit, verbessert die Aufmerksamkeit und verkürzt die Reaktionszeiten. Die Wirkung ist jedoch deutlich schwächer als bei Amphetaminen, und die Effekte verstärkter Müdigkeit auf die Leistungsfähigkeit lassen sich mit diesem Medikament nicht aufheben.
Modafinil, in Deutschland unter dem Markennamen Vigil® vertrieben, wird therapeutisch u.a. zur Behandlung von Narkolepsie, bei ausgeprägter Tagesmüdigkeit sowie bei Schlafapnoe-Erkankungen eingesetzt. Bei gesunden, „ungestressten“ Erwachsenen liegt die Wirkung ungefähr zwischen der von Methylphenidat und Amphetaminen. Es kommt zu einer leichten Verbesserung von Wachheit und Aufmerksamkeit, einer geringen Reduktion von Müdigkeit und einer Verkürzung der Reaktionszeit. Bei starker Müdigkeit nach Schlafentzug kann Modafinil deutlich Wachheit, Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit steigern.
Zur Relativierung der genannten Effekte seien noch die Ergebnisse einer 2005 veröffentlichten US-Studie erwähnt, bei der die Effekte von Modafinil im Vergleich zu Amphetaminen und Koffein zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit nach 85 Stunden Schlafentzug bei gesunden Versuchspersonen untersucht wurden.
Es zeigte sich, dass 20 mg D-Amphetamin und 400 mg Modafinil ungefähr gleich wirksam waren. Die Dosis ermöglichte eine Wiederherstellung von Wachheit und Leistungsfähigkeit, die zur Durchführung einfacher Leistungstests notwendig war. Allerdings zeigte sich, dass 600 mg Koffein, was in etwa dem Konsum von fünf bis sechs Tassen Kaffee entspricht, ebenso effektiv waren wie Amphetamin und Modafinil. Eine weitere Studie kam zu dem Ergebnis, das Koffein sogar bei der Lösung bestimmter Aufgaben Amphetamin und Modafinil überlegen war.
Medikamente zur Verbesserung von Lernen und Gedächtnis
Antidementiva werden therapeutisch zur Behandlung von Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz eingesetzt, um zumindest vorübergehend eine Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit zu erzielen. Obwohl einzelne Studien darauf hinzudeuten schienen, dass die Einnahme von Antidementiva wie z.B. Donepezil auch bei Gesunden zu einer leichten Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit und einer geringfügigen Verbesserung von Lerneffekten führt, ist unter dem Strich festzuhalten, dass die Studienergebnisse bei gesunden Menschen bestenfalls als widersprüchlich zu bezeichnen sind. Aktuell gibt es keine Hinweise dafür, dass Antidementiva bei Gesunden wirksam sind.
Medikamente zur Verbesserung der Stimmung
Antidepressiva werden bei Depressionen, aber auch bei Angsterkrankungen, Zwangsstörungen und Schlafstörungen verschrieben. Ihre Wirksamkeit bei der Behandlung dieser Erkrankungen resultiert aus einer Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin in die Nervenzellen, wodurch die Serotoninkonzentration erhöht wird. Eine Vielzahl randomisierter und placebokontrollierter Studien kommt jedoch bezüglich der Wirksamkeit der Antidepressiva bei gesunden Menschen zu eindeutigen Ergebnissen: Antidepressiva verbessern die Stimmung gesunder Menschen nicht effektiver als ein Placebo.
Fazit: Was Hirndoping kann und was nicht
Die oftmals berichteten subjektiven Erfahrungen von Hirndopenden, nach Einnahme bestimmter Substanzen leistungsfähiger oder „besser drauf“ zu sein, sind kein Beleg dafür, dass die objektive Wirksamkeit stärker ausgeprägt ist als unter Einnahme von Placebos. Belegbar leistungssteigernde Effekte durch Psycho- und Neuropharmaka zeigen sich ausschließlich im Bereich Wachheit, Aufmerksamkeit, Konzentration und sind in vielen Fällen nicht stärker ausgeprägt als die Wirkung von Koffein. Eine Verbesserung der Gedächtnisleistung durch Antidementiva ist nicht nachweisbar, genauso wenig führt die Einnahme von Antidepressiva bei Gesunden zu einer nachweisbaren Verbesserung der Stimmung.
Als Fazit ist festzuhalten, dass die zum Hirndoping verwendeten Medikamente uns weder glücklicher noch klüger machen, sondern ausschließlich auf den Bereich von Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration einwirken. Und auch hier zeigt sich, dass die medikamentös erzielte Fokussierung der Aufmerksamkeit durchaus ihre Schattenseiten hat. So ist fokussierte Aufmerksamkeit von Nutzen, wenn man in kurzer Zeit eine Menge Informationen verarbeiten muss, etwa in einer Phase der Prüfungsvorbereitung. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Art von „Denken mit Scheuklappen“, dessen Schattenseite darin besteht, dass das kreative Denken empfindlich gestört werden kann. Kreatives Denken zeichnet sich durch die (Neu-)Kombination von Elementen aus, die scheinbar nicht zusammengehören und – im Falle eines originellen kreativen Gedankens – vorher auch noch nicht in dieser Form zusammengedacht worden sind. Insofern setzt Kreativität eben gerade eine gewisse Ablenkbarkeit von geradlinigen Gedankenpfaden voraus.
Hinzu kommt, dass der Wirkung von Medikamenten zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit natürliche Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Wissenschaftler haben beobachtet, dass bei niedriger Aktivierung des Organismus – etwa im Schlaf oder in entspannter Ruhe – die Leistungsfähigkeit relativ gering ist, während bei mittlerer Aktivierung – etwa wenn man bei einer Arbeit etwas aufgeregt oder angespannt ist – die besten Leistungen erzielt werden. Steigt der Aktivierungsgrad jedoch noch weiter an, etwa wenn wir sehr aufgeregt sind, verschlechtert sich die Leistung. Entsprechend kann die Einnahme eines leistungssteigernden Medikaments bei einer eher „untererregten“, also zum Beispiel sehr müden Person zur Leistungssteigerung führen, während das gleiche Medikament bei einem recht hohen Erregungsniveau negative Effekte haben kann.
Selbstverständlich sollte man sich auch vor Augen halten, dass Medikamente – insbesondere potente Neuro- oder Psychopharmaka – immer Nebenwirkungen haben, die umso gravierender ausfallen, je länger eine Substanz eingenommen wird.
Ethische Aspekte von Hirndoping
Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit verläuft nicht entlang objektiv gegebener Kriterien, sondern wird auf der Basis historischer, kultureller und sozialer Variablen immer wieder neu definiert. Was wird passieren, wenn sich die Tendenz verschärft, Ökonomisierungsmaßnahmen in sensiblen Bereichen wie Soziales, Gesundheit und Bildung auf dem Rücken engagierter Mitarbeiter durchzubringen, die den Mangel an Finanzierung und Ressourcen durch ihren persönlichen Einsatz auszugleichen versuchen? Welche Konsequenzen hat es, wenn sich weiterhin die Praxis etabliert, Leistungsziele zu definieren, die mit dem vertraglich festgelegten Arbeitsaufwand nicht zu erreichen sind, dabei aber ein Ambiente geschaffen wird, das die Mitarbeiter davon überzeugt, dass es eine Frage der Existenzsicherung ist, diese Zielvorgaben dennoch zu erfüllen?
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich in einem solchen Fall Praktiken wie Hirndoping langfristig etablieren und zu allgemeiner gesellschaftlicher Akzeptanz finden würden. Dies könnte dazu führen, dass sich die Definition von normaler und gesunder Leistungsfähigkeit steil nach oben verschiebt. Relevant für die Bestimmung der Norm wäre dann möglicherweise nicht mehr das persönliche Empfinden für die natürlichen Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit. Stattdessen könnte die Norm durch die Anforderungen der Arbeitsmärkte und der ihnen eigenen Dynamiken bestimmt werden. Dies wiederum könnte letztlich dazu führen, dass Menschen sich gezwungen sehen, gegen ihren Willen auf den Einsatz von Psycho- und Neuropharmaka zurückzugreifen, um am Arbeitsplatz „mithalten zu können“. Für persönliche Selbstverwirklichung sowie geistige und spirituelle Entwicklung wären dies sicherlich nicht die besten Voraussetzungen.
Literaturtipps:
Matthias Burisch: Das Burnout-Syndrom: Theorie der inneren Erschöpfung. Zahlreiche Fallbeispiele. Hilfen zur Selbsthilfe, 5. überarb. Aufl., Springer 2014
Klaus Lieb: Hirndoping: Warum wir nicht alles schlucken sollten, Artemis & Winkler 2010
Internet:
http://hphome.sharepoint.com/Pages/default.aspx
(Website von COGITO. Institut für Autonomieforschung. U.a. Infos zu Indirekter Steuerung, Interessierter Selbstgefährdung etc)
www.his.de/pdf/pub_mag/mag-201202.pdf
(HIS-Magazin 2/2012 Titelthema: Hirndoping bei Studierenden in Deutschland)