Im Kreuzfeuer von Werbung, Lärm und unzähligen anderen Stimuli tagtäglich fühlen wir uns häufig in sämtliche Richtungen gleichzeitig gezogen. Wir sind überall, nur nicht bei uns selbst. Das ist auf Dauer sehr ermüdend. Darum ist es kein Wunder, dass Stress und all seine Symptome heute so weit verbreitet sind. Es ist also Zeit, eine Auszeit zu nehmen. Eine Auszeit etwa, um dem immerwährenden Sog von Konsum, Handy und Internet zu entkommen.
Wir sind deshalb aufs Land gezogen. Fernab des Großstadttrubels genießen wir Ruhe und Natur. Haben wir also leicht reden? Wir denken nicht, dass jeder direkt diesen Schritt gehen muss, denn Menschen sind bekanntlich unterschiedlich. Sich in Achtsamkeit zu üben kann helfen, mehr Ruhe, Gelassenheit und Freude im Leben zu finden.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit zu üben bedeutet, sich zu erinnern – sich zu erinnern, dass wir einen Körper haben, dass wir atmen, dass wir lebendig sind. Zu großen Teilen unseres Lebens befinden wir uns in einem Zustand, der eher an Schlafwandeln erinnert. Häufig erleben wir den Tag, ohne uns selbst bewusst zu empfinden. Während wir essen, mit dem Auto fahren oder jemandem zuhören, sind wir mit den Gedanken oft wo anders. Vielleicht irgendwo in der Zukunft, beschäftigt mit To-do-Listen. Wir entfernen uns so immer weiter von uns selbst. Wenn wir mehrere Stunden vor einem Computer verbringen, ist es nicht selten, dass wir dabei jegliches Zeitgefühl verlieren. Wir sind dann nicht länger in unserem Körper, sondern irgendwo im Internet. Achtsamkeit bringt den Geist in den Körper und somit in den jeweiligen Moment zurück.
Achtsamkeit lässt sich in vier Stufen abbilden:
Achtsamkeit gegenüber dem Körper
Zuerst müssen wir zu unserem physischen Selbst zurückfinden. Dem Körper gegenüber achtsam zu sein bedeutet, dem Atem mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sich jedem Atemzug bewusst zu sein. Es bedeutet, dem Atem in den Körper zu folgen und uns so all der Charakteristika unseres Körpers bewusst zu werden – dem Herzschlag, den unendlich vielen automatischen Prozessen und Reaktionen im Körper, die sich unentwegt abspielen und uns zu den lebendigen Wesen machen, die wir sind. Achtsamkeit auf der körperlichen Ebene kann sich auch in Dankbarkeit ausdrücken. In Dankbarkeit dafür, dass wir gehen, sitzen und in die Welt hinausschauen können.
Achtsamkeit gegenüber den Gefühlen
Nach und nach werden wir uns so der Emotionen und Gefühle bewusst, die sich in diesem Körper abspielen. Wenn wir unseren Gefühlen aufmerksam Raum geben, können wir sie beobachten, ohne uns in ihnen zu verwickeln und ohne selbst in den Sturm zu geraten. Die buddhistische Nonne und Lehrerin Pema Chödrön drückt das sehr schön aus: „Du bist der Himmel. Alles andere ist bloß das Wetter.“
Achtsamkeit gegenüber den Gedanken
Verwoben mit den Gefühlen und Emotionen sind die Gedanken. Indem wir unser eigenes Denken aufmerksam betrachten, können wir erkennen, welche Emotionen von welchen Gedanken herstammen. Dieser Prozess kann es uns ermöglichen, Gedanken loszulassen, die sich als unwahr herausstellen oder unangenehme Gefühle bestärken.
Achtsamkeit gegenüber geistiger Gefüge
Geistige Gefüge oder auch geistige Rahmen sind, zugegebenermaßen, etwas sperrige Ausdrücke. Sie sollen die Instanz in uns beschreiben, innerhalb derer der Geist existiert. In einer berühmten Rede erzählt der Autor David Foster Wallace eine Geschichte von zwei Fischen, welche zum Verständnis dieser Begriffe hilfreich sein kann. Auf ihrem Weg durch das Meer begegnen sie einem älteren Fisch. „Ist das Wasser heute nicht schön warm, Jungs?“, fragt der alte Fisch. Daraufhin schauen sich die beiden irritiert an und flüstern sich zu: „Was ist Wasser?“
Wir sind wie diese beiden jungen Fische völlig versunken in den Tiefen unserer geistigen Gefüge, und sind uns ihrer trotzdem nicht bewusst. Dabei beeinflussen diese Tiefen unsere gesamte Wahrnehmung – wie wir denken, wie wir fühlen und schließlich handeln. Doch weil wir unfähig sind, diese Gefilde mit einem gewissen Abstand zu betrachten, nehmen wir nicht wahr, was sie in Wahrheit sind. Achtsamkeit ermöglicht es, dass wir uns diesem geistigen Rahmenkonstrukt bewusst werden und so klarer die Missverständnisse sehen, die Schmerz und Leid verursachen.
Vergänglichkeit erkennen
Eines dieser geistigen Gefüge, welche es zu betrachten lohnt, betrifft unser Verständnis von Vergänglichkeit. Vergänglichkeit ist ein Wort, das manchmal einen negativen, fast schon beängstigenden Beigeschmack hat. Dabei beschreibt es ein sehr schönes Phänomen, dem wir durch die Achtsamkeitspraxis auf die Schliche kommen können.
Stell dir das Leben einer Wolke vor. Endet es, wenn es regnet? Nicht wirklich. Die Wolke setzt ihr Leben als Regen fort, als kleines Rinnsal, das bald in einen Bach mündet, zu einem Fluss wird und zurück in das Meer fließt, um dort zu verdunsten und wieder eine Wolke zu werden, die wir am Himmel sehen können. Eine Wolke kann nicht nicht sein. Sogar die moderne Wissenschaft stimmt da zu. Die Gesetze der Thermodynamik beschreiben, dass weder Energie noch Materie einfach verschwinden und das Universum verlassen können. Sie verändern vielleicht ihre Form oder ihren Zustand, bleiben aber grundsätzlich erhalten.
Phänomene, die nicht permanent andauern, geben uns die Gelegenheit, das Unvergängliche, das sich gleich dahinter verbirgt, zu erkennen. Die Welt ist in permanentem Wandel. Das können wir selbst beobachten, z.B. wenn wir in die Natur schauen und den ständigen Wandel mit unseren eigenen Augen sehen. Oder natürlich auch in unserer Meditations- und Achtsamkeitspraxis. Wir sehen verschiedene Sensationen, verschiedene Gedanken und Gefühle kommen und gehen. Und genau in diesem Wandel, in der Vergänglichkeit, liegt eine große Chance. Wir gehen davon aus, dass sich Dinge, die gut sind, zum Schlechten entwickeln können; oder – wenn wir Glück haben – Dinge, die schlecht sind, hin zum Guten. In Wahrheit gibt es aber vier Möglichkeiten: Gutes kann schlecht werden und Schlechtes gut, es kann aber auch Schlechtes noch schlechter werden und was gut ist besser.
Gutes kann noch besser werden. Wow! Na das ist doch mal eine Ansage. Öffnet das nicht ganz neue Perspektiven für unser Leben? Anstatt uns irgendwo festzuhalten können wir nun den stetigen Wandel nutzen, um unser Leben immer schöner, immer reicher, immer friedlicher (füge gern weitere Adjektive ganz nach Belieben hinzu) zu machen und so Glück als einen andauernden, also unvergänglichen Zustand zu erleben.
Im zweiten Blog-Beitrag zum Thema werden wir uns konkret damit beschäftigen, wie wir Achtsamkeit in die Tat umsetzen können!
Autor
Liz Huntly und Roland Jensch leben auf ihrer kleinen Farm in Ontario/Kanada und verbringen viel Zeit im Gemüsegarten und mit Hühnern, Ziegen und Bienen. Sie unterrichten weltweit Workshops, Retreats und in Yogalehrer-Ausbildungen in englischer und deutscher Sprache. www.lizandroland.ca