Frauen in Indien: Einst als Manifestationen der großen Göttin verehrt, erfuhren sie nach dem vedischen Zeitalter über Jahrhunderte hinweg Unterdrückung und Misshandlung. Die zum Teil immer noch andauernden Missstände gilt es bei aller Bewunderung für das Land des Yoga nicht aus dem Blick zu verlieren.
Ein Mädchen großzuziehen, das ist, als ob man den Garten des Nachbarn bewässert!
Indisches Sprichwort
Wer schon in Indien war, kennt die freudigen Huldigungsrufe, die der göttlichen Mutter (Ma) gelten, nur zu gut. An fast jeder Straßenecke kann man hier Tempel besuchen, die indischen Göttinnen wie Durga, Lakshmi oder Kali gewidmet sind. Morgens wie auch abends wird die tägliche Ganga-Arti zelebriert – eine Zeremonie am heiligen Ganga-Fluss, der als lebende Göttin verehrt wird. Und das jährliche Navaratri-Fest (auch: Durga-Puja), dessen neun Nächte gänzlich der göttlichen Mutter gewidmet sind, gilt als eine der größten spirituellen Feierlichkeiten Indiens.
Die Hindus lieben ihre Göttinnen. In Indien ist Gott feminin sowie maskulin, und Shakti, die weibliche Urkraft, wird mit ganz besonderer Innbrunst verehrt. Ohne Shakti, heißt es, ist Shiva, das absolute, reine Bewusstsein, lediglich ein Leichnam. Daraus abgeleitet könnte man meinen, dass der Sanatana-Dharma, wie die vedische Tradition ursprünglich genannt wird, ein wahres Wunderwerk der spirituellen Gleichberechtigung ist.
Der Schein trügt. In kaum einem asiatischen Land wird das Weibliche so wenig respektiert wie in Indien. Wer als Frau länger allein in Indien unterwegs war, kennt die sexuellen Übergriffe, denen man dort häufig ausgesetzt ist: die aufdringlichen Blicke, die Anzüglichkeiten, die unerwünschten Berührungen. Laut Statistik wird in Indien alle fünfzehn Minuten eine Frau vergewaltigt (Quelle: National Crimes Bureau, www.ncrb.gov.in/en). Soweit die offizielle Zahl – die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Opfer sind besonders häufig – aber keineswegs ausschließlich – Frauen der niederen, „unberührbaren“ Dalit-Kaste, deren Leben dort nicht viel wert ist.
Auch andere Arten von Gewalt gegen Frauen sind häufig und in allen Kasten der indischen Gesellschaft verbreitet: Kindsmord an weiblichen Säuglingen, Kinderheirat, Mitgiftmorde, häusliche Gewalt, Säureangriffe, Sexhandel, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Witwen. Die Liste ist lang.
Dies wirft viele Fragen auf. Wie kann es sein, dass in demselben Land, in dem Göttinnen so hingebungsvoll verehrt werden, Frauen regelmäßig geschlagen, vergewaltigt und ermordet werden? Dass Töchter so viel weniger […]